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 übergänge Zirkular : Nr. 3 : Editorial 

Ingwer Schwensen

WSVP und Zielfunktion

Einleitung

Anfangs mit Erstaunen habe ich in der „Z. – Zeitschrift Marxistische Erneuerung“ vom September 1996 den Beitrag von Frank D. Baldeweg gelesen. Dieser deutsche Professor der Naturwissenschaften gewährt dort unter der Überschrift „Stehen wir vor einer sozialen Revolution?“ Einblicke in die Abgründe seines Gesellschafts- und Menschenbildes, das sich anbietet, zwar nicht den Marxismus zu erneuern, aber so manchen Marxisten tief in ihre dunkle Seele zu blicken. Sinnfällig belegt seine aufklärerisch sich gebende, tatsächlich mit unsäglichen politischen Forderungen daherkommende Tirade, daß es auf der nach rechts geneigten Ebene, auf der sich die vernünftigen linken Staatsbürger stets bewegen, in Zeiten gesellschaftlicher Krisen für viele kein Halten gibt bis zur völligen Affirmation der naturnotwendigen Erfordernisse kapitalistischer Rationalität – soweit diese in ihren technisch-heroischen Ergüssen überhaupt zur Kenntlichkeit zu gelangen vermögen.

 

Baldeweg stellt damit im linken Spektrum keine Ausnahme dar. Seine Theorien stimmen mit der kulturkritisch unterlegten Gemengelage sozialistischen Denkens überein, ob es nun heute – alter Wein in neuen Schläuchen – ökologisch aufgepeppt oder sonstwie modernisiert daherkommt. Diese traditionellen Marxisten meinen, vermöge eines elitären Räsonnements, gepaart mit naturwissenschaftlich inspirierten Einsichten in ewige Gesetzmäßigkeiten von Gesellschaft an sich, ihre protofaschistischen Vorschläge zur dringend gebotenen Rettung des Gemeinwesens auch noch stolz als eine hehre sittliche Lösung vor sich hertragen zu müssen. Sie demonstrieren nur, daß die sich zuspitzenden gesellschaftlichen Widersprüche zu noch so manchen Überraschungen führen werden, die genau besehen gar keine sind.

 

Auf die Frage, warum dieser Text in die „Z.“ aufgenommen wurde, möchte ich daher im folgenden anhand von Baldewegs Ausführungen einige Antworten zu geben versuchen und im Zuge dessen zugleich in die Thematik der vorliegenden Nummern 3 und 4 der Übergänge einführen.

 

Diese beiden neuen Ausgaben unseres Zirkulars erscheinen nahezu gleichzeitig und bilden ein zusammengehöriges Ganzes. Im Fortgang des Jahres 1997 wird ihnen vielleicht noch ein weiteres Heft hinzugefügt werden können/müssen, das zusätzliche Materialien für eine geplante Reihe von Diskussionstreffen auf Grundlage aller dieser Ausgaben enthalten wird (vgl. das Editorial zur Nr. 4). Ziel des Ganzen ist, unsere mehr oder weniger kohärente Debatte über Aspekte und Linien eines revolutionären Marxismus im Laufe der nächsten Jahre in ein kommunistisches Projekt zu überführen. „Das beinhaltet“, wie es im damaligen Statteditorial der Übergänge Nr.1 anno domini 1994 formuliert wurde[1], „den historischen Vergesellschaftungsschub, in dem die bisherigen Inhalte und Formen linker Identität als obsolete schließlich weggebrochen sind, für sich selber und in Inhalt und Form der theoretischen Praxis bewußt zu vollziehen“. Und weiter hieß es dort: „Dieser tätige Nachvollzug ist ohne die kritischen Kategorien der Marxschen Theorie als ein adäquat reflektierter und emanzipatorisch anzueignender nicht zu haben“. Dieser Aufgabenstellung einer dialektischen Aufhebung bisheriger linker Theorie und Praxis haben natürlich nicht nur wir uns seither gewidmet. Während wir aber 1995 noch meinten, kritisch meinen zu können, es gehe in der linken Diskussion von Beute bis Spezial stets „nur noch darum, den Zerfall linker theoretischer Gewißheiten in Grenzen zu halten ... und mit jeder aufkommenden weiteren Frage scheint die Halbwertszeit des verbliebenen Inventars rapide zu sinken“[2], müssen wir heute um so „kritischer“ feststellen, daß viele von deren Protagonisten, dieser ihrer haltlosen weil ahistorischen Einhegungs- und Schadensbegrenzungsversuche wohl überdrüssig geworden, sich mittlerweile zunehmend in eine Art antikommunistischen Renegatentums flüchten.

 

Man möchte es ihnen nicht verübeln angesichts der Zeitläufte und zugleich von „Z.“ & Co., wenn nicht ihr ressentimentgeladener Reflex lediglich die postrevolutionäre Kehrseite der wieder sich tummelnden, noch jede kommunistische Pore verstopfenden Traditionskommunisten bilden würde. „Daß es sich eigentlich um theoretische Fragen handelte, d. h. um Erforschung und Aufklärung bestimmter objektiver Zusammenhänge“, was „wiederum nur reflektiert werden kann, wenn eben diese gegenwärtige Welt, wie sie geworden und also beschaffen ist, endlich wieder objektiv betrachtet, d. h. theoretischer Gegenstand wird“[3], zu dieser einfachen Tatsache ist beiden Seiten der „Großen Verdienstmedaille für dem bürgerlichen Fetischzusammenhang verhaftetes Denken“ anscheinend nach wie vor der Zugang verwehrt. Wenn ich mich also jetzt in Gestalt Frank D. Baldewegs einem typischen Skandälchen aus dem Lager der Traditionalisten zuwende und dem einen Teil meiner Einführung in die vorliegende Ausgabe der Übergänge abzugewinnen versuche, sei hier nochmals auf die zugehörige Nr. 4 unserer zu Bleiwüsten geronnenen Bemühungen und speziell auf den dort ebenfalls enthaltenen Text von Daniel Dockerill „Linksradikaler Antikommunismus“ verwiesen, in dem unser Befund des „antikommunistischen Renegatentums“ und anvisiertes Projekt einer „programmatischen Zuspitzung“ an eben der Kehrseite meiner erstaunlichen Kommunisten entwickelt wird.

 

Polemik

Baldeweg beginnt seine Thesen mit einer düsteren Zeitdiagnose. Er sieht wirtschaftlich, sozial und psychisch allerorts „spürbare Anzeichen von Stagnation und Verfall“, die „markante Attribute einer gestörten sozialen Balance“ seien[4]. Er präsentiert uns somit gleich zu Beginn im Negativ das Bild vormals sich entwickelnder, aufblühender, lebenskräftiger Gesellschaft, die wie ein Organismus, den er auch ein „evolutio­näres System“ zu nennen beliebt, nun aus dem Gleichgewicht geraten, somit krank an Leib und Gliedern und im Niedergang begriffen sei. „Verantwortlich für dieses [Krankheits-] Bild ist – wenn man so will – das bürgerliche System“, nicht das kapitalistische, wenn man so will, dieser Begriff taucht in seinem gesamten Text nicht auf. Er spricht dann aber immerhin von einem „Wertschöpfungs- und Verteilungsmechanismus“, der auf „betontes Wachstum [Fieber!], auf Profit- und Wertkonzentration [ungesund!] angelegt“ sei. Dessen „dominierendes Motiv ist der Privatbesitz; Träger ist das Individuum, psychologisches Attribut ist der Egoismus. Daraus resultiert zurückgesetzte Fähigkeit zum sozialen Ausgleich“.

 

Man merkt nicht nur mehrmals auf, sondern auch worauf es Baldeweg ankommt: auf Fiebersenkung und Infektionsabwehr, schließlich Heilung und Prävention = auf maßvolles Wachstum und Nichtmonopolisierung und gerechtere Verteilung von Profit und Wert. Später spricht er frank und frei in einer Aufzählung der die „Le­bensfähigkeit Deutschlands“ bedrohenden, also den Volkskörper infiziert habenden Faktoren von durch „Internationalisierung der Produktion und Kapitalflucht“ verursachten „Störungen der nationalen und regionalen Balance in der Beziehung von Großindustrie und Klein- und Mittelindustrie“. Des weiteren favorisiert er Einsatz für die Allgemeinheit als dominierendes Motiv wirtschaftlicher Betätigung, Vorrang der Gemeinschaft und Orientierung auf das Gemeinwohl, er spricht auch von „Gemeinsinn“ und definiert: „Sittlichkeit ist stets Regelwerk im Sinne der Gemeinschaft“. Nun fehlt nur noch die Geselligkeit und Deutschland wird aus seinem bösen Traum erwachen.

 

Zu guter Letzt geht es Baldeweg um ein Wie­dererstarken der Fähigkeit zum sozialen Ausgleich. Welcher Ausgleich, wie, zwischen was oder wem? Zwischen Klassen, die es bei ihm ebensowenig gibt wie Kapitalisten oder das ihnen eigene Produktionsverhältnis? Wohl eher zwischen den anderen Baldewegschen Gegensatzpaaren, die in seinen Augen die sich evolutionär entwickelnde Gemeinschaft/Gesellschaft an sich – neu übermalt als beherrschbares[5] Ökosystem par excellance – durchziehen: groß und klein, klug und unwissend, konstruktive Lösung und Inkompetenz (letztere „verursacht Trivialisierung und Destruktion“, welche wiederum ihn offenbar bis in seine Träume verfolgen[6]), Individuum und Gemeinschaft, rechts („steht für ordnend, konservativ, Macht erhaltend“) und links („für schöpferisch, verändernd, Macht infragestellend“), Elite („jene Minderheit mit der Fähigkeit zur Führung im weiteren Sinne“) und Mehrheit (lies: verdruckst für Masse = nix Führung, viel Chaos, große Angst bei Baldeweg; so sagt das der sozialistische Citoyen aber nicht).

 

Und wer nimmt den Ausgleich vor? „Wichti­ges Instrument der Balance ist der Staat, ... er ist Führungsinstrument“, aber, diese spätere Einlassung soll hier nicht unterschlagen werden, „Füh­rungsinstrument der Gesellschaft; er trägt Verantwortung dafür, daß Politik und Wirtschaft nicht als Selbstzweck agieren“. Also Führung, aber sozial. Nun gleicht der Staat als ide­eller Gesamtkapitalist, als bürgerlicher Klassenstaat tatsächlich die Anarchie der Einzelkapitalien aus. Er gewährleistet kapitalistische Reproduktion und reproduziert derart selber die Klassenherrschaft, die Ausbeutung und die Widersprüche, denen er sich verdankt; der Garant der Freiheit, der die Unfreiheit garantiert. Davon redet Baldeweg jedoch sowieso nicht. Sollte er allerdings, wie es stellenweise den Anschein hat, den nachkapitalistischen „Staat“ meinen, müßte er konkret von der Diktatur des Proletariats sprechen. Weder noch. Als eine Art überhistorisches tertium datur („er ist nicht Instrument der Elite gegen die Mehrheit, aber auch nicht Instrument der Mehrheit gegen die Elite“, als könne eine sittliche Definition ein objektives Verhältnis bestimmen[7]) hat der Staat statt dessen lediglich Maß zu halten, nämlich „den Grad seiner Einflußnahme auf den Wertschöpfungs- und Wertverteilungsprozeß und dessen Struktur zu kontrollieren“. Kontrolliert der Staat sich also selbst oder kontrollieren ihn die Eliten? Wohl letztere, denn „Verantwortung für Problemlösungen im Sinne moderner Ethik liegt bei der Elite, der konservativen rechten, der kreativen linken“. Passend heißt es in seinen abschließenden „Prämissen“, dort unter 1.: „Die unter dem Einfluß äußerer und innerer Faktoren entstandene kritische Situation in der Gesellschaft erfordert vor allem kooperatives Handeln der gesamten Elite; der Parlamentarismus – zunächst nicht die Demokratie – zeigt Anzeichen von Überforderung“. Jenseits des Parlamentarismus – zunächst nicht der Demokratie – harren unser die Baldewegs. Und im Gepäck führen sie die Deutsche Arbeitsfront. „Die Einheit Deutschlands ist nur mit dem Solidaransatz herzustellen“ und „das hieße im besonderen: Verstärken des kooperativen Elements in der Politik“, gepaart mit dem „Akti­vieren eines übergreifenden ethischen Prinzips im Sinne einer motiverhaltenden Wertedistribution [diese Sprache!], gezielter Einfluß auf die Medien“. Wir sagen Ja zu deutscher Arbeit.

 

Aber keine Bange: die Baldewegsche „Elite ist Teil der Gemeinschaft und dieser verpflichtet“. Sie teilt sich somit zum Wohle aller und gesittet das Führungsinstrument Staat zwecks maßvollen sozialen Ausgleichs und damit das Gemeinschaftswerk Deutschland auch seinen unmündigen Gliedern, ach was! der ganzen Welt, dereinst wieder zugute komme. Was aber, fragt sich und fragte sich bereits in Fußnote fünf, wenn die Gemeinschaft und ihre neuen alten Führer sich nicht einig werden können? Dann tritt wohl, nach guter Vätervätersitte, schlicht und notwendig der Staat ein; vielleicht nachkapitalistisch in seiner neuen Identität als revolutionäre Partei? Wogegen wir uns jedoch nicht empören sollten: Das ist, und wie viele solcherart Marxisten bildet er sich auf seine vorgebliche, weil ja naturwissenschaftlich beliehene Objektivität und Vorurteilsfreiheit sicher einiges ein, letztlich nur natürlich.

 

Bei Baldeweg sind Gesellschaften evolutionäre Systeme und das sind „Systeme, die sich auf eine Zielfunktion, eine Aufgabe einstellen können“. Die Lösung dieser Aufgabe sichert das Überleben der „Population“, denn „Populationen evolvieren mit einer gesellschaftliche Lebensfähigkeit reproduzierenden und sich reproduzierenden Zielfunktion“[8]. Die Aufgabe oder Zielfunktion besteht und bestand schon immer in der „Existenzsiche­rung“, wofür der Wertschöpfungs- und Verteilungsprozeß den „zentralen sozialökonomischen Mechanismus“ darstellt, auch immer schon und bis in alle Ewigkeit grundsätzlich gleich. Dabei beansprucht Baldeweg nicht nur „ein Modell des Wertschöpfungs- und Verteilungsprozesses, WSVP; das ‚Was und Wie‘“, sondern auch „ein ‚darunterliegen­des‘, aus dem evolutionären Ansatz abgeleitetes Modell (Marx: objektive, vom Bewußtsein des Menschen unabhängige Gesetzmäßigkeiten), das ‚Warum‘. ... Letztendlich leitet er sich aus den archaischen Abläufen der Existenzsicherung (Futter, Behausung) her“. Solche Naturnatur kann man und den überhistorischen WSVP will er deshalb nicht abschaffen. Er will ihn lediglich mittels des Staates kontrollieren, denn er sieht die kapitalistische Mehrwertproduktion (die er nicht versteht und nicht erwähnt, die seinem Trachten aber Form und Inhalt gibt) als nur seine kompliziertere Variante oder Ausprägung an.

 

Anstatt die vorkapitalistischen Gesellschaften also aus der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft – und so diese wiederum in ihrer Genese – zu erklären, dreht unser linker Professor vernünftigerweise den Spieß um. Dadurch verfehlt er zwar die qualitativen Besonderheiten des kapitalistischen Produktionsverhältnisses, aber er gewinnt eine Universalerklärung, sein „Warum“, die ihn nur noch mit der Frage nach dem richtigen Wie konfrontiert, welche er mit „evolvieren­der bewußter Klugheit“ wie gesehen (und genau besehen natürlich nicht) beantwortet.

 

Seine transhistorische Universalerklärung korrespondiert mit einer Auffassung vom Historischen Materialismus, wenn überhaupt, die diesen in vorkritische Geschichtsauffassungen zurückstopft. Und dieser depotenzierte Histomat, diese evolvierende Geschichte hält alle Türen offen für den linken Citoyen als potenten Retter der Nation. Dieser, endlich aller Dialektik ledig und damit, so hofft er und Bernstein läßt grüßen, des von ihm am meisten Gefürchteten: dem Negatorischen, der nicht beherrschbaren zerstörenden Wirkung der Dialektik[9], ist in seinem positiven Denken davon überzeugt, „daß der wirkliche Gang der historischen Ereignisse sich im Sinne einer organischen Evolution vollzieht und daß nur ein auf die empirischen Tatsachen bezogenes Handeln diesem stetigen Fortschritt Rechnung tragen könne.“[10]

 

Folgerichtig säuselt er uns vermassten Gestalten aus der zerrisenen Welt des Sozialen aufklärerisch ins Ohr: „Der Idealfall des stabil funktionierenden WSVP ist geprägt durch balancierte oder sich balancierende Wechselbeziehung zwischen Bedürfnissen und Machbarkeiten in einer Gesellschaft“. Betäubt durch soviel bedeutungsschwangere Banalität erkennen wir: Das Überleben der Gesellschaft hängt, oh wie ökologisch und gesund, verlange nicht zuviel von deinem Körper, von einem maßvollen Ausgleich ab zwischen Innovation und Tradition. Diese bringen wiederum ihre Personifizierungen in der linken und rechten Elite hervor, welche ihre ewige Grundlage in der „Gemeinschaft und deren Beziehung zur Umwelt“ haben. In diesem Welt- und Selbstverständnis, das die bürgerliche Gesellschaft und die geistigen Emanationen des Kapitalverhältnisses fetischisiert und gleichzeitig den Klassenkampf fürchtet wie die Pest, findet sich der linke Citoyen dann unauflöslich bei Strafe gestörter Balance an seinen rechten Ansprech-Partner als einzigen vernünftigen Gegenpol gekettet. Denn sie, „die Innovationsfähigkeit selbst ... wird durch Tradition balanciert, d. h. Innovationen geschehen mit dem Eintrag somatischer, genetischer und extrasomatischer, tradierender und dabei unterbewußt und bewußt angelegter Verhaltensbausteine“. Auch deshalb seine Forderung an die „gesamte Elite“, die nationale Revolution als ihre gemeinsame Anstrengung zu begreifen. National, denn es geht natürlich um die „Elite Deutschlands“. Diese sieht er angesichts der „gestörten sozialen Balance“ folgerichtig „in der Pflicht, die Bedingungen und Instrumentarien der Lebensfähigkeit Deutschlands stabil zu reproduzieren“. Baldeweg kennt keine Parteien mehr.

 

Allerdings ein Abendland; er wäre nicht er selbst, wäre er nicht zugleich ein Europäer. Als solcher ist er sich der deutschen Verantwortung bewußt: „Wirtschaftliche und soziale Unsicherheiten in Deutschland beeinträchtigen eine erwünschte polarisierende Wirkung im europäischen Rahmen“, polarisierend wegen der vorbehaltlos anzuerkennenden natürlichen Hierarchien. Wollen wir also die Schlitzaugen schlagen, müssen wir, im Zweifelsfall hart gegen andere wie gegen uns selbst, unsere Kräfte bündeln und die nicht wegzudiskutierende Weltmarkteinbindung beherzt in die eigenen Hände nehmen: „ei­ne rationelle Internationalisierung und zu steigernde Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Triade setzen jedoch rationellen Verbund des europäischen Wirtschaftspotentials voraus“. So leiert er sein immergleiches Affirmationsschema herunter. Kein Widerspruch, der unseren Pantoffelhelden innehalten ließe, kein rassistischer Chauvinismus, der seiner Ethik nur ein Haar zu krümmen vermöchte, kein Sachverhalt, den er nicht auf den Hund brächte.

 

Nein, solcherart imperialistische Stärkung des heimatlichen Großwirtschaftsraumes, die zu allem Überfluß oder auch der Vollständigkeit halber noch antiamerikanisch sich gebärden muß („eine durchaus naheliegende Kopie des amerikanischen ‚Credos‘ wirkt in die falsche Richtung“), läßt seine objektive Diagnose unserem räsonnierenden Tatmenschen dringend angeraten erscheinen: und wenn die Welt voll Teufel wär, laßt mich ans Ruder, Schlimmeres verhüten. Denn, sein Kerngedanke, die allgegenwärtigen „wirt­schaftlichen Störungen produzieren soziale Konsequenzen und Spannungen“, die nur allzuleicht zum Aufruhr führen und dann sein heißgeliebtes Gemeinschaftswerk im Klo runterspülen.

 

Deshalb, und weil er affirmieren muß, wenn schon Revolution, dann aber gesittet. Hier kulminiert sein angstgetriebener Größenwahn angesichts der größten ihm vorstellbaren Herausforderung. Deutlich sieht er die Gefahr, daß die sogenannte und unmündige und hoffentlich zu Recht von Baldeweg und Konsorten gefürchtete maßlose „Mehrheit“ sich selbst organisiert, und das ganz anders und mit einer anderen „gesell­schaftlichen Zielfunktion“ (der häßlichen Diktatur des Proletariats über die Gartenzwerge) und sich für dieses Ziel in den vielfältigen Formen des verwirrenden Klassenkampfes und gegen die Pest der bürgerlichen Elite engagiert. Das steht für den deutschen Professor, den peinlichen Idioten Dr. Frank D. Baldeweg als fürchterliches Menetekel an der Wand.

 

Wenn es doch wahr wäre! Er aber sucht gegenüber ihm dräuender sozialer Revolution und getreu der ihm eigenen natürlich ökologischen Vernunft Mittel und Wege, um die „erfahrungs­gemäß unkontrollierbar“ und „chaotisch“ ablaufenden sozialen Umwälzungen, die sich im Gefolge „sozialer Unzufriedenheit“ ergeben würden, die wiederum „Stö­rungen im sozialen Gleichgewicht“ signalisieren, wenn schon nicht abzuwenden, so doch einer „klugen Lösung“ zuzuführen. Er stellt sich der Gefahr und auch ich habe verstanden und möchte so einer „voraus­schauenden und damit sittlichen Lösung“ natürlich nicht im Wege stehen. Niemand kann, letztes Fernsehbild der Anderen, zwangsläufig balkanisierte Verhältnisse wollen, gehen sie doch „in der Regel mit Zerstörungen einher“. Und „die Geschichte zeigt, daß kurzfristige Gewalt im Verbund mit facettenreicher Demagogie dominieren“. Dem Aufsatz vorangestellt hat er daher mit gutem Grund das Credo der Bismarckschen Konter-Revolution, die man lie­ber selber machen wolle, als durch die wenig klugen, geschweige denn sittlichen Massen, die er fürchtet und verachtet zugleich, aufgezwungene, vor allem echt falsche gesellschaftliche Veränderungen erleiden zu müssen.

 

Baldewegs Revolutions- und Staatsauffassung erinnert so neben Bernstein fatal an Ferdinand Lassalle. Auch Lassalle wollte die für ihn unausweichliche Revolution kanalisieren, um auf diese Weise die „Konvulsionen der Gewalt“ (Lassalle) zu vermeiden. Deshalb hatte seine Agitation auch, um noch einmal K. Lenk zu zitieren, „nicht allein die Arbeiter, sondern zugleich auch die herrschenden Schichten zum Adressaten: ihnen soll klargemacht werden, daß sie die Wahl zwischen der vorzeitigen und hellsichtigen Reform von oben oder aber der katastrophischen Zerstörung haben, bei der Revolutionen vulkanartig ausbrechen und die uneinsichtig Herrschenden mit in den Abgrund ziehen“.[11] So spricht der hellsichtige Staatsmann Bismarck dem der Hölle angesichtigen Gartenzwerg Baldeweg direkt aus der eitlen Philisterseele: „Wenn schon Revolution sein muß, dann wollen wir sie nicht erleiden, sondern machen“.

 

 

An diesem Potpourri nationalstaatlichen Ordnungsdenkens fällt bald auf, wie leicht und unbeschadet man sich davon hätte distanzieren können. Dennoch hat die „Z.“ es in ihrer Rubrik „Diskussion, Kritik, Zuschriften“ kommentarlos abgedruckt. Auch im Editorial wird dieser Beitrag als einziger mit keinem Wort erwähnt. Das könnte nach Verdrängung riechen oder wenigstens auf ein Unbehagen, vielleicht einen kleinen Streit in der Redaktion – vgl die vierte Fußnote: vergeblich – hoffen lassen. Warum wurde sich für den Abdruck dieser möchtegern aufgeklärten, tatsächlich unsäglichen Thesen entschieden?

 

Im allgemeinen werden in Zeitschriften fragwürdige Texte trotzdem abgedruckt, wenn sie zumindest einem Teil der Redaktion zumindest zum Teil in den Kram passen. Solche Entscheidungen fallen nicht immer glücklich aus und lassen sich meist im Nachhinein kritisch zurückverfolgen und erklären. Ich denke, daß es sich bei der „Z.“ genau so verhalten hat. Zu viele ihrer Redaktionsmitglieder sympathisieren offenbar mit zu vielen von Baldewegs Grundannnahmen und Welterklärungen, teilen zu viele seiner Ängste und Sorgen und hegen denselben elitären Dünkel und dieselben Sehnsüchte nach geregelter Ordnung, als daß sie dafür den ihnen, wenn überhaupt, überzogen und seltsam anmutenden Rest seines Textes nicht relativiert, uminterpretiert und schließlich als auch-nicht-ganz-falsch in Kauf genommen hätten. Wie so viele Bürger schlittern sie mit ihrem vor Widersprüchen strotzenden autoritären Bewußtsein auf derselben schiefen Ebene in dieselbe, bei ihnen allerdings wortreiche Affirmation der herrschenden Verhältnisse, sei diese nun marxistisch-sozialistisch gewendet oder nicht.

 

Das heißt jedoch, daß die Baldewegs so bald nicht weg sein und im Bedarfsfalle „ge­störter sozialer Balance“, sprich massenhafter „sozialer Unzufriedenheit“ ihr wenig revolutionäres, dafür um so repressiveres Wirken, vielleicht in neuem Outfit, aber gewohnter Manier, im Vernunft-Bündnis mit der herrschenden Klasse[12] voll entfalten werden. Die jedem Kommunismus Hohn sprechenden Traditionskommunisten der „Z.“& Co. wenigstens sind offenbar dermaßen auf den Hund gekommen, daß ihre Angst vor Klassenkampf und Revolution, in denen sich das Proletariat seine eigenen revolutionären Organe schafft, die also emanzipatorisch und nicht unter der vernünftigen Führung der linken Staatsbürger vonstatten gehen, sie zielstrebig bei ihrem rechten Pendant und in autoritär-kor­poratisti­schen Lösungen ihre Zuflucht suchen läßt. Diese Tendenz kommt nicht von ungefähr. Um einen alten running gag zu bemühen: Schon in Friedenszeiten blieb die DKP – immer Vorbild, Kommunist – in Demonstrationszügen auf Signal ihrer Ordner stolz an roten Ampeln stehen. Welches Gesellschafts- und Menschenbild dem zugrundeliegt, wie wenig das mit Marx zu tun hat und wie diese Citoyens dann in Krisenzeiten vielfach reagieren, sollte in den Zitaten und der vorstehenden Polemik aufscheinend deutlich geworden sein. Es ist eigentlich recht einfach: wer den Kapitalismus nicht versteht und nur seine widersprüchlichen Ausprägungen, zu denen eben auch der Klassenkampf gehört, abschaffen will, ist verdammt und aus seiner Massenverachtung heraus auch bereit, das kapitalistische Produktionsverhältnis bis in seine faschistischen Ausprägungen zu vollenden. Solcherart den Kommunismus abwehrende Revolution von oben mit der Zielfunktion einer Rettung des natürlich gegebenen WSVP scheint dieser Art Marxisten von den Ausgangspunkten ihres Denkens her nur logisch und konsequent zu sein. Worauf sie sich auch noch echt was einbilden.

 

Rolle rückwärts

Die Ingredenzien dieser Übereinstimmung mit Baldewegs Ausführungen auf Seiten der Traditionskommunisten, nicht nur der „Z.“, bilden einige der wesentlichen kontroversen Punkte und ihre Kritik eine Voraussetzung jeder ernstzunehmenden Kommunismusdiskussion, wie sie ja in dieser und der alsbald folgenden Ausgabe der Übergänge wieder im Zentrum stehen soll. Geht es in unseren Debatten um die differenzia specifica eines revolutionären Marxismus, so hat der deutsche Professor einige von dessen Kontrapunkten in dankenswerter Weise offengelegt. Deshalb konnte er hier stellvertretend als prima Watschenmann herhalten.

 

Ein Stachel aber bleibt: All dieses konterrevolutionäre Zeug glauben er, die Z., die &Co eben als gute Marxisten/Kommunisten. Es bleibt die Frage – uns drohen nicht Revolutionen, sondern Fragen –, ob „gute Kommunisten“ einen Fingerbreit über die Grenzen bürgerlicher Verhältnisse hinauskommen können?

 

Bestimmen zu wollen, was revolutionärer Kommunismus heute sei, führt meines Erachtens in ein Dilemma. Hier verläuft eine systematische Grenze, die auch der vorstehenden Polemik in die Parade fährt. Das in der Frage und ebenso in den (mehr oder weniger) begriffslosen Richtungskämpfen sich unbarmherzig Geltung verschaffende Problem besteht darin, daß das Denken und Handeln der Revolution bürgerlicher Vergesellschaftung unterliegt. Und dieser Vergesellschaftungsprozeß führt nicht zur Herausbildung der Subjekte und Praxen, derer eine Revolutionierung der Verhältnisse nolens volens bedürfte. Das Problem läßt sich daher scheinbar jenseits eines undialektischen Dezisionismus der Gewalt, der doch die zu überwindenden Verhältnisse nur nochmals an den vermeintlichen Subjekten exekutieren würde, nicht lösen. Es bleibt auch von unseren bisherigen Antworten in mittlerweile drei, bald vier Nummern der Über­gänge unberührt.

 

Wir konstatieren zwar, die Verhältnisse seien objektiv reif, umgewälzt zu werden (gerade mal erst reif: Robert Schlossers „Voraussetzungen des Kommunismus“ in der Nr.4; längst reif: Daniel Dockerills „Anmerkungen ...“ dazu; ebd.), können aber Hermann Kirschs resigniert abschließender Fußnote (in diesem Heft S. 40, Fn. 8) letztlich nicht widersprechen, wollen wir uns nicht lächerlich machen. Der gesuchte Ausweg besteht zumeist in einer kulturrevolutionären Konzeption, z.B.: „Marx’ Gedanke einer praktisch-eman­zi­pativen Bewegung, die alle Verhältnisse umwirft, in denen sich soziale und individuelle Unterdrückung manifestieren, macht evident, daß es sich bei der Überwindung dieser Widersprüche nicht nur um eine Befreiung bereits in der bürgerlichen Gesellschaft objektiv herausgebildeter Elemente handeln kann. Es geht um praktisch erst herzustellende neue Verhältnisse, in einem langwierigen Prozeß der Revolutionierung  materieller, gesellschaftlicher und kultureller Strukturen. Der Bruch, den die Revolution bewirken soll, wird von Marx als so radikal vorgestellt, daß die vorhandenen Bewußtseinsformen insgesamt durch neue Formen der Artikulation und Kommunikation ersetzt werden.“[13] Nach der Revolution findet also entweder die Erweckung und Entfaltung neuer, im Zuge der Herstellung der neuen Bedingungen uns zuwachsender Fähigkeiten statt, denen zugleich wieder neue Möglichkeiten entspringen werden für noch mehr Fähigkeiten; oder „nach der Revolution“, das ist ein Fundbüro, in das wir eintreten, Verlorengegangenes wiederzugewinnen. Je nachdem, wir werden nicht nur erfahren, daß unsere verlorenen Güter längst versteigert worden sind. Wir werden uns vor allem damit trösten, im ersten Augenblick noch, schließlich abfinden müssen, daß wir sowieso nur den alten verlustreichen Gebrauch von ihnen hätten machen können. Das Neue, das zu erarbeiten diese produktivkraftentfesselnde Verewigung des Produktionsparadigmas uns aufgibt, liegt eben jenseits eines „Bruchs“, der es uns Revolutionären, und der uns Revolutionäre diesseitig zu Nichts zerrinnen läßt in dem Augenblick, da wir es fassen wollen, hier und heute. „Diese Zeiten werden kommen“, sagt Marx, „aber wir müssen dann fort sein.“[14] Nach der Revolution, das hat nicht nur Marx, das haben auch Trotzki und viele andere Marxisten so gesehen, ist vor der Revolution. Dieser Zirkel, der Marx nicht hindern brauchte, ist uns im Zeitalter nach Herberger das Menetekel. Es hat sich uns scheinbar Überflüssigen als Erfahrung des wie zwangsläufigen Ineinsfallens von Revolution und Repression, von Revolution und Nicht-Revolution eingebrannt, die gerade aus der Trennung von Machtübernahme und kommunistischer Umwälzung resultiert. Soll diese Trennung daher im Vorfeld der Revolution bereits soweit als möglich aufgehoben werden, stehen wir wieder vor der obigen Frage nach der objektiven Reife der subjektiven Bedingungen, an deren Beantwortung, schonungslos gegen andere wie gegen uns selbst, nicht wahr, wir uns als Marxisten/Kom­munisten nicht voluntaristisch oder idealistisch vorbeidrücken können.

 

Das Menetekel lehrt offenbar, „daß es keine Hoffnung auf einen befriedigenden Endzustand geben kann, nicht mal die Vorstellung von einem erstrebenswerten Ziel. So hat der Eintritt in eine diesseitige Ewigkeit stattgefunden.“ Führt dann die Verzweiflung über den Widersinn und die Grausamkeit kapitalistischer Normalität, „weil das Leben danach schließlich weitergeht, in der Praxis dazu, daß man sich für das kleinere Übel entscheidet“[15], das wir mit Klassenkampf und Kommunismus bezeichnen, ist das zwar unter Umständen zu begrüßen, hat jedoch den Kreis nur noch einmal durchschritten und der scheinbaren Unmöglichkeit notwendiger Revolution keinen Deut abgerungen. Ernstlich fand ein sich Eingraben im Diesseits statt.

 

Es kommt daher nicht von ungefähr, daß den Übergängen eine kulturrevolutionäre Konzeption bisher fast (hier findet sie in den Briefen Karl-Heinz Landwehrs wenigstens ihre teilweise Thematisierung) völlig fehlt. Sie allerdings ist deshalb nur um so nötiger, auch wenn ihr Versuch beim gegenwärtigen Stand der Theoriebildung sowie vor allem der revolutionären Praxis das dargelegte Problem erstmal nur endgültig ans Tageslicht zerren würde. Sie würde erweisen, und hätte sich diesem Umstand (endlich) zu stellen, daß die Revolutionstheorie „sich ihres fatalen Hangs, von sich aus ‚positiv‘ zu werden, entledigen und das Aufspüren irgendwelcher ‚Subjekte‘ der Revolution als haltlose Projektion des eigenen Willens in die Außenwelt erkennen“ muß[16]. Denn „wo die revolutionäre Dynamik erlischt, ist die Einheit von Theorie und Praxis dann nur noch um den Preis aufrechtzuerhalten, daß Theorie ihren Anspruch, die ‚Kritik alles Bestehenden‘ zu sein, aufgibt und sich statt dessen dazu herabläßt, eine Praxis, die nicht mehr aus der herrschenden hinaus-, sondern immer tiefer in sie hineinführt, durch interessierte wie fadenscheinige Interpretationen schönzureden“[17]. Eine „sekundäre, gewissermaßen reflektierte Orthodoxie“[18], wie sie auch in unserer Postille bereits gefordert wurde, müßte demnach die zentralen Einsichten Kritischer Theorie (die Daniel Dockerill für so einsichtig nicht hält in seinem die Nr. 4 einleitenden Beitrag „‚Revoluti­onstheoretischer Impetus‘ oder Theorie der Revolution?“) über die Bedingungen revolutionärer Theorie und Praxis selber, die sich nicht aushecken lassen, und die damit untrennbar verflochtene kapitalistische Vergesellschaftung des nicht schönredbaren revolutionären Subjekts in die Debatten über revolutionären Marxismus (wie­der) einschreiben.

 

Die, nicht nur für kommunistische Projekte fatalen, Folgen kapitalistischer Vergesellschaftung äußern sich also in einem Widerspruch von gleichzeitiger Aktualität und Überlebtheit revolutionärer Theorie und Praxis. Das macht zugleich ein gut Teil des gereizten Ennui aus, das die abgehalfterte kommunistische Debatte heute vielfach und in dieser Hinsicht zu Recht hervorruft. Sie ist, schlicht gesagt, grundsätzlich zu traditionell und zuwenig orthodox. Schon ihr Habitus verrät ihre deklamierten Inhalte. Immer noch mißversteht da kleinbürgerliches Denken sich selbst und die Welt und denunziert den Wunsch nach Befreiung als: kleinbürgerlich. Immer noch sind die kommunistischen Debatten von einem schematischen Nebeneinander der verschiedensten Versatzstücke unterschiedlicher Epochen geprägt und mit haarsträubenden Ordnungsdiskursen durchsetzt. Immer noch verfehlen ihre Akteure in ahistorischen Politizismen systematisch ihre eigene oder von ihnen als eigene reklamierte – blutige – Geschichte und so ihre konkrete Gegenwart zugunsten eines ressentimentgeladenen und mit Verdrängungen behafteten Meinens, einer hilflosen Willkür, die eben gerade allen kulturrevolutionären Emanzipationsgelüsten nur mit Mißtrauen und bornierter Geringschätzung zu begegnen vermag. Immer noch muß vielfach an ihren Gebrauch des Wortes Arbeit das Wort Lager angehängt werden. Sich von den Baldewegs absetzen zu können, heißt noch nicht viel.

 

Ausfallschritt

Wir haben Hermann Kirsch 1994 kennengelernt. Das heißt, einer von uns hat ihn auf einem Seminar der Krisis, auf dem dieser kommunistische Doktor rer. oec. aus Leipzig (Jahrg. 1922) nun wirklich fehl am Platze war, angesprochen und ist danach mit ihm in brieflichen Kontakt getreten. Im Zuge dieses Briefwechsels, der zum gut Teil in den Textpool unseres gesamten Kreises eingebracht wurde, hat Hermann Kirsch sukzessive seine teils über 30 Jahre alten Schubladentexte zugänglich gemacht und zur Diskussion gestellt und hat versucht, die Quintessenz seiner Anschauungen nochmals in dem hier abgedruckten Aufsatz anläßlich des hundertsten Jahrestages der Herausgabe von „Das Kapital III.“ soweit möglich zusammenzufassen.

 

Die erste – maschinenschriftliche, schlecht kopierte und mit vielen handschriftlichen Zusätzen und Anmerkungen versehene – Fassung dieses Manuskripts habe ich auf einem Treffen Ostern 1995 aus dem Stapel von zur Verteilung ausliegenden Kopien mitgenommen, eigentlich um sie überhaupt für die Zusammenhänge in eine rezipierbarere Form zu bringen. Im Zuge dieser ersten Überarbeitung sah ich mich einem Kommunisten gegenüber, der bei allem Dissens Sympathie und Respekt erheischte. Rechtfertigte das, seine Texte, die vielen heute und nicht unbedingt zu unrecht als einem anderen Universum zugehörig, zumindest einer vergangenen Zeit entstammend vorkommen und nicht nur deshalb große Angriffsflächen bieten, in veröffentlichter Form zur Diskussion zu stellen? Immerhin behandelt er essentielle Probleme, aber in einer Art und Weise, die zu überwinden wir ebenfalls für essentiell halten.

 

Die weitere Geschichte unserer Befassung und Auseinandersetzung mit Hermann Kirsch und seinen übergangstheoretischen Arbeiten war daher denkbar kurvenreich, auch disparat, und ist hier anschließend an seinen Aufsatz in einer Auswahl von zehn der weitaus zahlreicheren Briefe und Texte in hoffentlich nachvollziehbarer Weise dokumentiert. Wir haben Hermann Kirschs Position – und das hat bei allen Differenzen den Ausschlag gegeben – als einen „Pol“ der Kommunismus-Debatte repräsentierend verstanden, dessen paradigmatischen Staatsfeti­schismus, positive Auffassung von Politischer Ökonomie und auch ideologiekritische Naivität es in einer modernen Kommunismuskonzeption zwar aufzuheben, aber auf keinen Fall vor Bewältigung dieser Arbeit einfach abzuspalten gilt. Der Spagat, den dieser Anspruch, der widersprüchlichen Totalität bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft und so Geschichte Rechnung zu tragen, nach sich zog, kann hier begutachtet werden; auch in seinen zwischenzeitigen Peinlichkeiten und seinem Scheitern, wenn die ungelenken Vorturner auf ihre platten Hintern fallen.

 

Diese mittels Endpunkten einer Linie oder am Firmament zu verbindender Sterne vorgenommene, unentschiedene Verortung komplexer und dialektisch zu vermittelnder Inhalte und Zugänge spiegelt zugleich die per Willensakt schlecht aufhebbare Situation wider, sich der eigenen politisch-theoretischen Gehalte mangels möglicher revolutionärer Praxis nicht konkret bemächtigen zu können. Die objektiv düsteren Aussichten für eine solche Praxis, sowohl was ihr Vorkommen als auch was die Gestalt ihrer Surrogate angeht, ziehen sich wie ein roter Faden, teils als eigentlicher Subtext, durch unsere Diskussionen. Es wird daher zum Beispiel auch in unserer Debatte notwendigerweise für die vorgebrachten Argumente Wahrheit beansprucht, ohne deren Wahrheitsgehalt am letztgültigen Gradmesser einer revolutionären Situation überprüfen zu können. Es wird gegen die Ordnungstheoretiker wie gegen ihr Pendant, die neuen Revisionisten, emanzipatorisches, das Kapitalverhältnis zumindest im Vorschein aufhebendes Handeln in seiner Möglichkeit und Notwendigkeit verteidigt, ohne auf eine solche wirkliche Bewegung verweisen zu können. Dieser Umstand hängt, wie gesagt, nicht nur unserer Arbeit wie ein Klotz am Bein.

 

Die nachfolgenden Briefe/Texte stellen einen Ausschnitt aus unserer Übergang-zum-Kommu­nismus-Diskusssion zur Verfügung, die wir für wert und bedürftig halten, fortgesetzt zu werden. Sie ist mit dieser Dokumentation und insgesamt mit den beiden nun vorliegenden Nummern 3 und 4 der Übergänge unsererseits erst lediglich eröffnet. Gerade die beiden hier des weiteren enthaltenen Texte von Daniel Dockerill und Zwi Schritkopcher behandeln Fragen (den Zusammenhang zwischen Wertkritik und traditionellem Revisionismus) und Ansätze (die Situationisten), die der Gesamtthematik der als Gesamtes zu revolutionierenden Gesellschaft zwei weitere unabdingbare Facetten hinzufügen. Die fast parallel erscheinende Nr. 4 unseres Zirkulars wird da sicher ein Übriges tun, auch wenn zentrale Positionen, der Operaismus z.B., oder in bestimmten Positionen verkörperte Inhalte und Probleme, siehe meine vorstehenden Überlegungen, auch dort noch gar nicht oder nur angesprochen sind.

 

Wie bei der Dokumentation eines Diskussions- und Selbstverständigungsprozesses kaum anders zu erwarten, handelt es sich um work in progress. Es sollte daher im Zuge der Lektüre deutlich werden, daß unsere hiermit nochmals ausgesprochene Einladung zur Mitarbeit und Auseinandersetzung für allerlei Querköpfe offen ist. Oder, um zur Frage ihrer Grenzen aus einem der hier dokumentierten Briefe von Hermann Kirsch zu zitieren: „In den Internationalen gab es auch viele divergierende Strömungen, die letztlich nur durch ein einziges Band auf einen Nenner gebracht waren: antikap. und prokommunistisch zu sein. Diesem ‚der zwei großen feindlichen Lager‘ gehörten alle an. Bei wem selbst das zweifelhaft wurde, der mußte mit Ausschluß rechnen.“

 

Hätten wir je eine revolutionäre Organisation, die durch jede Art kategorischen Ausschlusses sich nicht zugleich als lächerlich erweisen würde! Wir könnten unsere Lieblingslisten hervorziehen und genüßlich einige Ausrufezeichen setzen. <>



[1] Ingwer Schwensen: „Statt eines Editorials: Das, was schwer zu machen ist“; a.a.O. S. 6

[2] Daniel Dockerill: „Spezielle Übergänge. Das Nationale, die Marxologie, der Unsinn, der Hund und der Mond“ in Übergänge (1995), Nr.2; S. 3

[3] ebd.; S. 4

[4] Frank D. Baldeweg in: Z. – Zeitschrift Marxistische Eneuerung. 7 (1996), Nr.27; S. 216-221, im folgenden keine genauen Zitatangaben aus diesem lediglich sechsseitigen Schmuckstück. Die Einfügungen in eckigen Klammern stammen von mir.

Übrigens ergaben ein Anruf bei der „Z.“-Redaktion sowie ein Blick in Kürschners Gelehrtenkalender (nicht die neueste Ausgabe 1997, das ist er nicht mehr enthalten), daß es sich bei dem Text nicht einfach um eine gelungene Satire handelt – ich war mir da zwischenzeitlich unsicher geworden –, der Beitrag sei „durchaus ernstgemeint. Wieso?“

[5] Seine aufgefrischten organischen Metaphern dienen im Kontext einer Art bioökonomischen Denkens unter anderem der Erzeugung einer Illusion einer von aufgeklärten Wissenschaftlern positiv begreifbaren und sozial-tech­nisch beherrschbaren Gesellschaft. Ohne das verrückte Kapitalverhältnis abschaffen zu wollen, werden dann wieder die „verrückten“ Menschen, die sich dieser Herrschaftsvernunft nicht gemäß verhalten, diszipliniert und/ oder aus dem Weg geräumt werden müssen.

[6] Trivialisierung: deutlich thematisiert Baldeweg eine Entwertung „unserer“ = seiner rational gemeinschaftlichen Lösungs-Kompetenzen, die ihn zutiefst beleidigt und seinen elitären Stolz verletzt. Er antizipiert die Zurückweisung seiner patriarchalen Liebe durch die namenlose rohe Masse, die alles Gute, Besondere eben nicht würdigen, nur ihrer trivialen Alltäglichkeit und auch Unbeherrschtheit subsumieren kann. Er ist daher in Zeiten aufbrechender gesellschaftlicher Antagonismen zunehmend im Heroismus seiner Männlichkeit bedroht – und bestärkt zugleich; vulgo: der Gartenzwerg fürchtet, impotent zu werden, weiß diese Bedrohung aber durch Klarheit und auch Härte (aus Einsicht in die Notwendigkeit), durch Stärkung seiner ihm wie von selbst zu Gebote stehenden Mittel also, patriarchal souverän zu parieren. Dennoch bleibt er bedroht und vor allem überflüssig wie ein Kropf. Diese seine Tragik läßt ihn sich mit der Gesellschaft identisch setzen, um so vernünftiger und wahrer erscheint ihm daher seine Diagnose; ein verschissener Zirkel aus Unmittelbarkeit und allgemeinster Abstraktion.

[7] Einerseits verleihen die Bürger ihrem Gerede die Weihen naturgesetzlich überhistorischer Wahrheit, andererseits plustern sie ihre Subjektivität zu entscheidender Bestimmungsallmacht auf. Die Wurzel dieses Widerspruchs suchen sie weder in ihrem eigenen Denken noch in dem ihr Bewußtsein bestimmenden gesellschaftlichen Sein. Statt dessen steigern sie, wie immer, wenn ihnen Widersprüche begegnen, ihre Art politischen Machbarkeitswahns und versuchen auftretende Schwierigkeiten, ganz kritische Kritiker, herrschaftstechnisch zu lösen. Da schlägt die bürgerliche Aufklärung endgültig in Mythologie um und das nervt nicht nur, das macht sie gefährlich.

[8] Eine andere aufschlußreiche Passage lautet: „Soziale Systeme wollen überleben; sie sind durch Mechanismen der Lebens- oder Überlebensfähigkeit evolvierende, sich in der Regel selbst strukturierende Systeme von Individuen oder sozialen Gruppen; Überlebensfähigkeit baut sich in geschichteten, hierarchisch strukturierten, regulierenden Funktionen aus der physikalischen bis in die sozialpsychische Ebene auf; d. h. Überlebensfähigkeit sozialer Systeme realisiert sich aus dem Wirken von Gesetzmäßigkeiten und Symmetrien der physikalischen, chemischen, biologischen etc. Evolution“ und dann fügt er noch eine denkwürdige Anbiederung an neuere Varianten der Gesellschaftsphysik hinzu: „(es liegt nahe, ein Modell fraktaler Mechanismen ins Spiel zu bringen).“ Wie er buhlt und balzt und wie das alles schön zusammen geht!

[9] Bar aller Dialektik entbehrt Baldeweg selbstredend ebenso ihres (Hegelschen) Versöhnungscharakters.

[10] schreibt Kurt Lenk nicht über Baldeweg, aber passenderweise über Eduard Bernstein in: Theorien der Revolution. München: Fink, 1973; S. 140.

[11] Lenk (1973); S. 107-108; auf die gleichzeitig nicht geringen Konvergenzen, m.E. geschuldet dem Politik machen wollen und müssen unter bürgerlich-kapitalistischen Bedingungen, zwischen Lassalleanismus/Reformismus und revolutionärem Marxismus gehe ich in dieser Polemik nicht ein. Lassalle würde dann gar nicht so schlecht abschneiden, was wiederum einem dem fortgeschrittenen Stand der realen Verhältnisse sich verdankenden Mangel des revolutionären Marxismus geschuldet wäre. Für eine historische Darstellung der Konvergenzen siehe z.B. Cora Stephan: „Genossen, wir dürfen uns von der Geduld nicht hinreißen lassen!“ Aus der Urgeschichte der Sozialdemokratie 1862-1878. Frankfurt am Main: Syndikat, 1977; S. 123-141

[12] vgl. jüngst z.B. die sog. „Erfurter Erklärung“ und ihre vielen linken Freundinnen und Freunde; für eine demnächst erscheinende Gegenrede s. Matthias Grewe: Der Staatsbürger rüstet auf. In: Diskussionsbrief. Ein offenes kommunistisches Forum. (Hamburg) 4 (1997), ca. Nr.5 (Information und Kontakt: s. die Selbstdarstellung des OKF in unserer Nr. 4)

[13] Ingeborg Nordmann: Kulturrevolution bei Marx und in der DDR. Über das Verhältnis von Theorie und Praxis. Berlin: Verlag Volker Spiess, 1980; S. V

[14] s. die Rückseite unserer Nr. 4.

[15] Wolfgang Pohrt: Brothers in Crime. Die Menschen im Zeitalter ihrer Überflüssigkeit. Über die Herkunft von Gruppen, Cliquen, Banden, Rackets, Gangs. Berlin: Edition TIAMAT, 1997; S. 9 u. S. 73

[16] Clemens Nachtmann: Adornos Orthodoxie: das Fortbestehen der Revolutionstheorie nach ihrem Ende. In: Baha­mas. (1997), Nr.22; S. 47 (44-50); unbedingt empfohlen, auch weil dort Grundlagen besser ausgeführt werden, als ich es in diesem Editorial vermag. Für eine gründlichere Diskussion des von mir eher nach Redaktionsschluß gelesenen Nachtmannschen Textes s. mein derzeit im Entstehen begriffenes Papier: Das Denken der Revolution: zu einem Arbeitsschwerpunkt „Revolutionstheorien“ in der HSB. (Hamburg, Mai 1997) erhältlich über: Hamburger Studienbibliothek e.V., Schulterblatt 23c, 20357 Hamburg.

[17] ebd.; S. 46

[18] ebd.; S. 44

 
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