Corona und der Kampf gegen Rechts

Über zwölf Thesen, ein Diskussionsangebot und die deutschen Zustände

Von D. D.

Es war einmal …

Mitte Dezember 2019 befassten sich „einige Genossinnen und Genossen aus SH und Hamburg“, die mit unserem Zirkelchen verbandelt sind, in knapp gehaltenen zwölf Thesen mit Fragen einer eventuellen Beteiligung der Partei die Linke an einer Bundesregierung. Es stand eine Bundestagswahl im September des übernächsten Jahres (2021) ins Haus und in deren Folge die Bildung einer neuen Bundesregierung; eventuell mit Beteiligung der Partei die Linke daran.

DIN A4, 18 Seiten
Corona und der Kampf gegen Rechts [übera
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Der Drang hin zu den Fleischtöpfen des Regierens war da innerhalb der Partei, wie sich denken lässt, ziemlich mächtig. Insofern war der Hinweis – gleich in der ersten der zwölf Thesen – darauf, dass es in der Frage eines linken Mitregierens sich keineswegs um „eine allein subjektive Entscheidung des Wollens“ handle „unter Absehung aller bedeutsamen gesellschaftlichen Umstände“, sicherlich nicht bloß redundant oder gar selbstredend.

Mit Verweis auf die „schon einmal“ gut zwanzig Jahren zuvor installierte rotgrüne Regierung befanden zudem die „Thesen“ nicht zu Unrecht die mögliche Neuauflage einer derartigen „Mitte-Links-Regierung“ als „eleganter“ nicht etwa für die Linke, sondern „für die Bourgeoisie“ (zu der für diese weniger „eleganten“ kommen wir gleich noch ausführlicher). Allerdings hatten die „Thesen“ (in ihrer Nummer Sieben) noch erwartet, dass es zur Realisierung solch einer fürs bürgerliche Regieren passabelsten Variante diesmal im Unterschied zu 1998 „zwangsläufig die Linke“ brauchen werde. Im wirklichen Leben kam es dann doch etwas anders: Die „objektiven Bedingungen“, die „auch“ zu „betrachten“ die zweite These angemahnt hatte, darunter nicht zuletzt „die politische Lage … im Land“, hatten am Tag nach der Bundestagswahl nämlich die ganze Frage vollends erledigt, ob DIE LINKE endlich auch im Bund förmlich regieren wolle oder solle. Eine Regierungsmehrheit war mit dieser Partei auch bei deren allerbestem Willen nun nicht mehr zu bewerkstelligen.

Das freilich hinderte ein weiteres halbes Jahr nach dieser Wendung der Dinge zwei der Autoren jener „Thesen“ nicht, in einer (als „12 Punkte“) aktualisierten Neufassung davon,[1] den mahnenden, obwohl mittlerweile nur noch redundanten Verweis auf besagte „objektiven Bedingungen“ brav zu wiederholen. Denn maßgebende und schier unüberwindliche Kräfte in Partei und Fraktion (welche letztere ja beinahe gar nicht zustande gekommen wäre) „wollen“, wie fast etwas entgeistert die Autoren gleich im ersten ihrer „12 Punkte“ konstatieren, „[s]elbst nach der schweren Niederlage der LINKEN … weiterhin mitregieren“.

Fürs Regieren gemacht

In der Formulierung „wollen … weiterhin mitregieren“ steckt indes ein Doppelsinn, der den Autoren womöglich ob ihrer Entgeisterung entgangen ist, der aber geeignet ist, dem Tatbestand noch einen etwas anderen Sinn abzugewinnen als den, dass da ein mit der Wirklichkeit zusammengestoßenes Wollen darin fortfährt, sich um diese nicht zu scheren: den nämlich, dass die Linke nicht damit aufhören mag, durchaus nicht nur in ihren Phantasien, sondern – in welch bescheidener Form auch immer – wirklich mitzuregieren; dass sie nämlich partout nicht zurückkehren will in die oppositionelle Schmuddelecke, aus der die Partei sich im Laufe der letzten ca. zehn Jahre, nicht ungeschickt allerhand glückliche Umstände und vielleicht auch einige Angebote nutzend, hinausmanövriert hatte.[2]

Dass die Partei an und für sich zum Regieren gemacht war und kaum zum Opponieren, das hat immer schon ihr Stammbaum bezeugt, der in jener Sozialdemokratie wurzelt, die spätestens 1914 ihrem oppositionellen Sein ein Ende gemacht hatte. Zum Festhalten am Opponieren hatte es seinerzeit deren Spaltung bedurft. Und die ungewisse Hoffnung bei der teilweise recht turbulenten Geburt der Partei die Linke bestand auch diesmal allein in dem Umstand, dass deren Geburtshelfer wieder die Trennung eines an Zahl zwar eher kleinen, aber politisch nicht völlig bedeutungslosen Teils der Sozialdemokratie von ihrer großen Mutter gewesen war. Der weitaus dickere Ast des neuen linken Gewächses jedoch, die (später zur PDS umgemodelte) SED, hatte dereinst schon in ihrem Namen und dem dazugehörigen Logo demonstriert, dass sie ihr Dasein einer Rückabwicklung jener alten Spaltung verdankte. Dieser Ast war bekanntermaßen von vornherein mit dem Regieren sogar in seiner autoritärsten Form bestens vertraut und war auch in seiner zur PDS gewandelten Gestalt schon vor und während der Gründung der Linken an der einen oder anderen Landesregierung auch förmlich beteiligt gewesen. Und seit der Gründung der Linken hatte das ja nicht aufgehört, man hatte eher im Gegenteil noch etwas zugelegt, kulminierend darin, dass im Freistaat Thüringen die Linke seit dem Dezember 2014 den Ministerpräsidenten stellt – mit einer kleinen aber feinen Unterbrechung, auf die wir gleich näher zurückkommen müssen, denn deren kurze Geschichte wirft ein Schlaglicht darauf, was es mit jenem „weiterhin mitregieren“ der Linken (auch ohne Großbuchstaben) in Wahrheit schon eine beträchtliche Weile auf sich hat.

Haben sich zwar, was mögliche Optionen der Linken nach den Wahlen angeht, dank deren beschleu­nigtem Niedergang, die Annahmen der „Thesen“ vom Dezember 2019 nicht bestätigt, so allerdings sehr deutlich immerhin zwei andere: Das „Szenario“ einer schwarz-grünen Regierung, für das der Mainstream der Medien lange getrommelt hatte, ist aufgrund der von Schwarz bei den Wahlen eingefahrenen enormen Verluste nicht eingetreten. Diese Verluste – sowie erstrecht der Auftrieb für Scholzens SPD – waren indes selbst ein halbes Jahr vor den Wahlen noch nicht unbedingt abzusehen gewesen. These Vier hatte Schwarz-Grün jedoch schon im Dezember 2019 „für unwahrscheinlich“ gehalten, wenngleich mit einer nicht besonders artikulierten Begründung: Eine „systemische Krise des Kapitalismus“, hieß es da etwas vollmundig, weil nichtssagend (denn eine „systemische Krise“ ist „der Kapitalismus“, wenn nur irgendetwas, zeit seines systemischen Daseins an sich selbst), sei „nicht bereinigt“ und obendrein kündige eine „zyklische Krise“, die davon nicht abgegrenzt und also ebenfalls nicht näher bestimmt wird, „sich an“.

Nicht ganz so prophetisch nimmt sich die zweite Annahme aus, worin die „Thesen“ Recht behielten. Hatte doch die politische Großwetterlage im Dezember 2019 bereits recht deutlich darauf hingedeutet und bald danach die Probe aufs Exempel geliefert: Spitze sich „die Krise“ zu, hieß es in Nummer Fünf der „Thesen“, erhöhe sich „die Kriegsgefahr und … die Notwendigkeit sozialer Kürzungen“,

und die Nummer Sechs fährt fort:

„Eine Option fürs Kapital wäre dann eine Regierung aus CDU und AFD. (Eventuell unter zur Hilfenahme der FDP)“,

um indes am Schluss derselben These festzustellen,

„[e]in Durchregieren“ in dieser Konstellation „wäre schwierig.“

Gewissermaßen als Kontrapunkt dazu kommt man dann in der siebten These auf besagte „elegantere“ Option einer „Mitte-Links-Re­gie­rung“ zu sprechen.

Ein politisches Lehrstück ignoriert

Die in derselben These gegebene Charakteristik von besagter seinerzeit nur erst prognostizierten „Mitte-Links-Regierung“ wurde in das oben schon erwähnte Update der „12-Punkte“ vom Frühjahr 2022 (dort unter Punkt Sechs) wortwörtlich übernommen. Dies leider, ohne sie anhand ihrer inzwischen in Gestalt der Ampel erfolgten Realisierung zu überprüfen. Daran nämlich erweist sie sich, ins­besondere in der darin gezogenen Parallele zu ihrem Vorläufer von 1998 ff, als dermaßen grobschlächtig und daher letztlich unzutreffend, dass sie eine eigene ausführlichere Erörterung nötig hätte. Es ist von „Sozialkürzungen“ die Rede und von „eine[r] härtere[n] Gangart in der Außenpolitik“, die „gegen die Bevölkerungsmehrheit“ durchgesetzt werden müsse – so als gäbe es, im Innen wie im Außen der Welt, keine Parteien, Klassen oder divergierende Interessen mehr, sondern nur harte oder weniger harte „Gangarten“ und Mehrheiten oder Minderheiten an Bevölkerung. Näheres dazu – wie auch zu einigem anderen der „12 Punkte“, das über ein Update der „Thesen“ hinausgeht – muss jedoch an dieser Stelle zunächst ausgespart bleiben.

Im hier aufgemachten Zusammenhang interessiert vorerst einmal vor allem die nähere Darlegung jener Schwierigkeiten, mit welcher nach der These Sechs besagte andere „Option fürs Kapital“ einer „Regierung aus CDU und AfD“, so denn auf sie gesetzt worden wäre, habe rechnen müssen: Sie werde, hatte es da im Dezember 2019 geheißen,

„wahrscheinlich alle anderen politischen Kräfte, SPD, Grüne, LINKE, Gewerkschaften und soziale Bewegungen, mobilisieren. Gewerkschaften, SPD und Grüne sind dann gezwungen Farbe zu bekennen.“

Damit war ein Szenario beschrieben, das nicht nur, wie gesagt, schon zum Zeitpunkt seiner Formulierung keine Wahrsagerei war, weil es vielmehr in der Luft lag, sondern überdies, wenn auch mit einer nicht unwesentlichen Modifikation, knapp zwei Monate später auf eine seltsam possierliche und zugleich dramati­sche Weise konkrete Gestalt angenommen hat.

Im Update der „12 Punkte“ wird diese markante Episode der bundesdeutschen Politik und auch alles, was sich daran direkt anschloss, leider völlig übergangen. Über anderthalb Jahre hinweg, in denen „die Krise“, wie auch immer näher zu bestimmen, sich ja durchaus bereits gehörig „zugespitzt“ und allerhand Krisenmanagement erfordert hatte, hüpft man schnurstracks zu den Bundestagswahlen, von denen man inzwischen befindet (Punkt Fünf des Updates), dass in deren „Folge … es für das deutsche Kapital eine Krisenregierung“ gebraucht habe, „die Sozialkürzungen und die Kriegsfähigkeit Deutschlands durchsetzen und den Protest dagegen abschwächen kann.“ Und „vom Rathaus“ gekommen, ist man jetzt natürlich allemal klüger als zuvor, weshalb es lapidar nun „deshalb“ heißt: dass nämlich

„[s]owohl Schwarz-Grün als auch eine rechtskonservative Regierung aus CDU und AfD … deshalb zum Zeitpunkt der Wahlen“

nicht einmal mehr gewesen seien, was zumindest letztere im Befund vom Dezember 2019 immerhin noch gewesen war: nämlich „eine Option fürs Kapital“.

In den „Thesen“ (Nummer Neun) hatte man dagegen seinerzeit selber noch der Partei die Linke, die man ja zum „eleganteren“ bürgerlichen Regieren damals noch für unentbehrlich hielt, ans Herz gelegt, mit der Verweigerung ihres Mittuns beim Regieren nach den Wahlen, „die Bourgeoisie“ regelrecht zu zwingen, auf ebendiese fürs „Durchregieren“ ungünstige „Option“, nämlich „auf eine CDU/AFD-Regierung zu setzen.“ Und hatte (These zehn) – wohl zur Besänftigung des erwartbaren Protests aus der Antifa-Ecke – die leider nicht näher begründete „Einschätzung“ hinzugesetzt, eine solche Regierung „wäre … heute eine rechts-konser­vative, aber keine faschistische Regierung.“

Konfrontieren wir indes den seinerzeit nur erst prospektierten (These Elf) „Protest und … Widerstand, der sich gegen solch eine Regierung erheben wird“, mit dem bald darauf gegen das Gespenst „einer solchen Regierung“ real stattgehabten, dann ergibt sich zum einen, dass der reale „Protest und Widerstand“ just aus der fixen Idee seinen Kick sich holte, in Gestalt der AfD und ihren Erfolgen es mit nicht weniger als dem Heraufdämmern eines Wiedergängers des Faschismus zu tun zu haben. Zum andern aber hat die oben angesprochene Modifikation, die das in der fünften These angedachte Szenario in der Realität erlitten hatte, auch die Gegenüberstellung eines „eleganteren“ Mitte-Links-Lagers auf der einen Seite und eines „rechts-konservativen“ auf der andern bis auf weiteres als bloßes Phantasma erwiesen. Weshalb dann auch im „Zentrum“ jenes realen „Widerstands“, auf welchen Platz ggf. sich zu „stellen“, zwei Monate zuvor die These Zwölf noch der Linken anempfohlen hatte, für diese kein Platz gewesen war, denn den hatte die Kanzlerin besetzt.

Das alles scheint, obwohl erst gut zweieinhalb Jahre her, hinter der Zäsur von „Corona“ mitsamt der schließlichen Draufsattelung des Kriegs in der Ukraine, des Akutwerdens einer grün induzierten Energiekrise und in der Folge all dessen ins Galoppieren geratenen Inflation wie hinter einem Nebelvorhang abgetaucht ins Erinnern nur noch von ungefähr. Aber es handelt sich um die unmittelbare Vorgeschichte, um das Geschehen unmittelbar vor jener Zäsur, mithin um deren inhärentes Momentum. Deren Davor und Danach hängen unmittelbar zusammen. Über das jetzt gegenwärtige Danach und seine politischen Wäg- und Unwägbarkeiten sich allerlei Gedanken zu machen, ohne das Vorausgegangene hinreichend genau zur Kenntnis genommen zu haben und dann auch beider Zusammenhang zu reflektieren, ist mittlerweile ebenso vergeblich wie sinnlos.

Dass das zwar kurze, aber länglich angebahnte politische Lehrstück, das den „12 Thesen“ eine zeitige Probe auf ihre Tauglichkeit geliefert hatte, in deren „12 Punkte“-Update komplett ignoriert wird, ist also kein lässliches Manko und daher wohl nötig, dem genaueren Erinnern auf die Sprünge zu helfen. Auf diese Weise könnte dann auch die „Einschätzung“ dessen, wie viel oder wenig „Faschismus“ vonseiten der AfD hier und jetzt drohe, vielleicht mit etwas – an sich jedermann zugänglichem – politisch-praktisch Erlebtem angereichert werden und wäre nicht mehr in der Not, aufs Geratewohl bloß das Orakel zu befragen. Erinnern wir uns also und gehen wir zurück zum unmittelbaren Davor unserer mit einer ausgewachsenen Krise einhergehenden Gegenwart!

Eine Provinzposse zur Staatskrise aufgebauscht

Wir schreiben das Jahr 2020. Spätestens seit Jahresanfang haben nahezu in aller Welt diverse einflussreiche Kräfte sich daran gemacht, das ganz große Kino einer Jahrhundertseuche in Szene zu setzen. Zum Ende desselben Jahres stehen Wahlen in Amerika ins Haus, die über die Besetzung eines der wichtigsten Staatsämter auf dem Globus entscheiden; eine Besetzung, die umstritten ist wie selten zuvor und derentwegen bis zum Gegensatz divergierende Interessen wahrhaft planetarischen Ausmaßes miteinander ins Gehege kommen, deren wechselseitige Einwirkungen auf- und Abhängigkeiten voneinander auf unserem zusammengerückten Globus naturgemäß größer sind denn je.

Schaut man vom Ende, vom Ausgang der großen Schlacht um Amerikas Präsidentschaft her auf das Jahr, dann fällt auf, dass das gespenstische Riesenspektakel um Corona dem Herausforderer und schließlichen Sieger jedenfalls keineswegs geschadet hat, dem am Ende besiegten Amtsinhaber, der vor „Corona“ sowohl hinsichtlich der Wirtschaftsdaten als auch außenpolitisch[3] einigen Erfolg vermelden konnte, aber sehr wohl. Und der Eindruck scheint nicht abwegig, als wäre da der eine große Spuk, als welchen die Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Trump dessen Gegner in aller Welt zweifellos nicht nur betrachtet, sondern auch behandelt haben, durch einen wohlinszenierten noch größeren Spuk, der angesichts des Streitwerts nun einmal globales Ausmaß erfordert hatte, glücklich vertrieben worden.

Wie aber auch immer die monströse Seifenoper um Corona mit dem Gang der profanen Politik in der großen weiten Welt des Näheren zusammenhängen mag – in Deutschland, wo jener Menschentypus, dem es nie genügt, die Dinge möglichst richtig zu machen, der es stets ganz besonders, ganz außer­ordentlich richtig machen muss, sich zum Nationalcharakter ausgewachsen hat; in diesem Deutschland, das daher immer von neuem – das eine Mal verschämt, das andere Mal trotzig auftrumpfend oder auch frech alles leugnend – seinen Sonderweg (gegenüber seinen europäischen Partnern, wie im transatlantischen Bündnis) behauptet, dem zu seinem allergrößten und darum gerne ignorierten Leidwesen nahezu niemand folgen will; in diesem unseren Lande blieb es natürlich nicht aus, dass auch seine Inszenierung des Corona-Spektakels einen spezifisch deutschen Anstrich erhielt, als dessen hervor­stechendes Merkmal ein abrupter Wechsel von demonstrativer Gelassenheit zur Hyperventilation ins Auge springt. Bemerkenswert ist aber vor allem der Zeitpunkt für den hiesigen Start des Blockbu­sters „Corona“, denn er fällt passgenau zusammen mit demjenigen, da ein zum deutschen Nationaldrama aufgemöbeltes Stück thüringisches Bauerntheater heil über die Bühne gebracht war.

Begonnen hatte die Klamotte, der ein gewisser Unterhaltungswert wohl nicht abgesprochen werden kann, damit, dass die AfD in Thüringen mit List und Tücke für einen kurzen Moment in die Rolle des Königsmachers geschlüpft war. Bei den vorausgegangenen Wahlen im Oktober 2019 hatte sie nicht nur die Anzahl ihrer Sitze im Thüringer Landtag verdoppeln können, sondern war auch zur zweit­stärksten Fraktion hinter der Partei Die Linke aufgestiegen, die den amtierenden Ministerpräsidenten stellte. Dessen Regierungskoalition hatte, obwohl die Linke noch einmal zugelegt hatte, wegen der erneuten Verluste vor allem der SPD, aber auch der Grünen nun zwar ihre Mehrheit verloren. Aber eine Regierung ohne die Linken wäre dennoch nur zu haben gewesen unter Inanspruchnahme irgendeiner Hilfe der AfD. Die aber pflegt in Thüringen, mit viel gruselig nazi-affiner Rhetorik angeführt von Björn Höcke[4], ein ganz besonders ekliges Image, was es wiederum dem politisch-medialen Establishment leicht machte, mit allerlei Tamtam die politisch verzwickte Situation restlos zu entpolitisieren und zur Frage einer politisch einigermaßen undefinierten, dafür mit reichlich Moralin gesättigten Haltung hochzujazzen.

Die stärksten Verluste bei den Wahlen, und zwar etwa in der Größenordnung des Zugewinns der AfD, hatte mit beinahe zwölf Prozentpunkten die CDU zu verzeichnen gehabt. Aber auch die FDP, die zwar um zweieinhalb Prozentpunkte zugelegt hatte, hatte wenig Grund zu jubeln, denn sie hatte nur mit Ach und Krach, nämlich ganzen 73 Stimmen, sich über die Fünfprozenthürde gequält und es in den Landtag zurückgeschafft, aus dem sie bei den vorherigen Wahlen achtkantig hinausgeflogen war. Eine wie auch immer geartete Unterstützung des rotrotgrünen Regierungsbündnisses durch die CDU konnte nach Adam Riese nur die Abwanderung ihrer Wählerklientel zur AfD weiter befördern. Und auch die FDP musste befürchten, durch ihre Unterstützung einer Regierung, von deren sie tragenden Parteien nur die stärkste gewonnen, die beiden schwächeren Partner aber zum Teil sehr deutlich verloren hatten, beim nächsten Mal wieder aus dem Landtag zu fliegen.

Beide hatten aber sowohl vor als auch nach der Wahl jegliche Zusammenarbeit mit der AfD kategorisch ausgeschlossen. Aus dieser Klemme, keine der beiden Parteien unterstützen zu können, gegen die in der Summe eine Regierungsbildung rechnerisch unmöglich war,[5] hatte sie die AfD mit ihrer Finte, im dritten Wahlgang ihren eigenen Kandidaten leer ausgehen zu lassen und stattdessen dem konkurrierenden Kandidaten der FDP, Thomas Kemmerich, ihre Stimmen zu geben, in gewisser Hinsicht befreit. Man hatte jetzt einen ordentlich gewählten Ministerpräsidenten, der weder zur SED-Nachfolgepartei Die Linke gehörte, noch mit irgendwelchen handfesten Verbindlichkeiten gegenüber der AfD belastet war.

Gelassenheit und Augenmaß im Umgang mit diesem Resultat der zeit- und nervenraubenden Wahlprozeduren wären also durchaus angebracht gewesen, vertrugen sich aber nicht mit dem längst schwer erhitzten politischen Klima der Republik. Auf zahlreichen Demos im ganzen Land wurde warnend der Aufstieg der Nazis am Ende der Weimarer Republik beschworen. Die Rede vom „Tabubruch“ machte die Runde, und ein Professor für Politik namens Michael Koß wusste, „darüber erschüttert“, offenbar schier nicht mehr, was er redete, als er in Deutschlandfunk Kultur die Angelegenheit einen „Fall von Republikflucht“ nannte. Die SPD-Landesmutter von Rheinland-Pfalz Malu Dreyer halluzinierte gar gänzlich tatsachenbefreit, CDU und FDP in Thüringen hätten „einer rechtsextremen Partei an die Macht verholfen.“[6] Aus diesem heraufdämmernden Ende „unserer Demokratie“ wies dann schon einen Tag nach Kemmerichs Wahl am Beginn einer Pressekonferenz fern der Heimat, im Rahmen ihres Staatsbesuchs in Südafrika, die Kanzlerin den Weg: „dieser Vorgang“ sei „unverzeihlich“, beschied sie, und deshalb müsse „das Ergebnis rückgängig gemacht werden“.[7] Zwei Tage später konnte zu Hause bereits Vollzug gemeldet werden: Thomas Kemmerich trat zurück.

Schulterschluss von CDU/CSU bis Links

Mit seinem Rücktritt – am selben Tag zuvor schon vom Koalitionsausschuss der Bundesregierung wie auch der Bundesspitze der FDP gefordert – hatte Kemmerich seiner eigenen Partei und der CDU in Thüringen erspart, sich auf baldige Neuwahlen einzulassen, bei denen sie höchstwahrscheinlich bös verloren hätten. Er konnte diese nun nämlich nicht mehr über eine verlorene Vertrauensfrage herbeiführen. Und eine Selbstauflösung des Landtags hätte einer Zweidrittelmehrheit bedurft, die wiederum wegen der mangelnden Unterstützung seitens der CDU die der AfD gebraucht hätte, etwas, das man ja nun auf keinen Fall mehr in Anspruch nehmen durfte.

Es gab jetzt nur noch den Weg über ein mehr oder weniger formelles Allparteien-Bündnis unter Ausschluss der AfD, wenn man so will, eine postmoderne Neuauflage der Volksfront unselig – was denn auch ganz der das Ende von „Weimar“ beschwörenden medial gehypten Stimmung im Lande entsprach. Freilich brauchte es dann noch ziemlich genau einen Monat, bis dieses mehr oder auch eher weniger formelle Bündnis in trockenen Tüchern war.[8] Aber endlich am 4. März 2020 wurde Bodo Ramelow mit der relativen Mehrheit der 42 Stimmen seiner alten Koalition im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt.

Ein im Lichte all dessen, was dann folgte, vielleicht nicht eben unbedeutendes Element der Bündnis-Abmachungen besagte, dass zwar die damit zustande kommende Landesregierung, für deren Arbeit sogar ein besonderer „Stabilitätsmechanismus“ verabredet war, nur ein Provisorium bis zu vorgezogenen Neuwahlen sein sollte, dass aber diese Neuwahlen zum Thüringer Landtag erst ein Jahr später, am 25. April 2021 stattfinden sollten. Wegen „der Pandemie“ wurden dann jedoch im Januar 2021 die verabredeten Neuwahlen zunächst vom April in den September auf den Tag der Bundestagswahl verschoben, um schließlich noch rechtzeitig davor, nämlich im Juli, ganz abgeblasen zu werden. Das Provisorium geriet also unter der Hand zum Definitivum. Der mit ihm installierte Zustand bleibt, wenn nichts anderes dazwischen kommt, bis zu den turnusmäßigen Landtagswahlen im Herbst 2024 bestehen. Und was immer Böses ein Schelm sich dabei denken mag – Tatsache ist jedenfalls, dass ziemlich genau ab der Beilegung seiner inneren Querelen in Gestalt des Thüringer Parlaments- und Regierungskuddelmuddels das politische Establishment der Republik, von der CDU/CSU bis zur Linken, nahezu synchron in Sachen Corona-Panik den Fuß von der Bremse nahm und aufs Gaspedal drückte.

Große Krise rettet aus kleiner

Aus einer Krise bloß der politischen Blase wurde auf diese Weise eine die Gesellschaft im Ganzen, alle ihre Insassen im Innersten erfassende und ihren Alltag umkrempelnde Krise. Dem Politikbetrieb bescherte das nicht nur den dringend erwünschten Themenwechsel – das bis dahin schier nicht bewältigbare Problem AfD war aus dem Zentrum medialer Aufmerksamkeit zum Ärgernis am Rande geschrumpft –, sondern er erhielt vor allem die Gelegenheit, aus der Rolle des Krisenherds in die des Krisenmanagers zu wechseln. Denn Krise ist an sich und war schon immer zuallererst die Stunde der Exekutive, in der alles bis dahin Oppositionelle mitzumachen oder stille zu schweigen hat bzw. mundtot gemacht wird. Und die Exekutive, assistiert von allem, was auch ohne amtliches Zertifikat gerne dazu gehören wollte und durfte, ließ sich nicht lumpen. Was als mögliche Opposition dann noch übrig blieb, sah sich beinahe über Nacht durch ein ebenso strenges wie kaum berechenbares Krisenreglement eingehegt und damit quasi automatisch aller Wirksamkeit beraubt.

Der im Wind der Virus-Panik segelnde Gesundheitsschutz erwies sich dabei nicht nur als ein hochflexibel gestalt- und handhabbares Instrumentarium, um nahezu alle Abwehrrechte gegen staatliche Willkür ins Belieben der Regierungen und ihrer Behörden zu stellen, sondern gab den Spitzen der etablierten Parteien zudem die Möglichkeit, das jeweils eigene Parteivolk nahezu vollständig aus dem politischen Spiel zu halten. An sich längst fällige Parteitage wurden entweder gar nicht erst einberufen oder ein ums andere Mal verschoben.[9] – Die „Ausnahme“ des Ende November 2020 unter allerhand Buhrufen aus dem medialen und politischen Establishment, die bei der FDP im September noch ausgeblieben waren, live und in Farbe in Kalkar abgehaltenen Parteitags der AfD bestätigt in diesem Fall buchstäblich nur die Regel, denn diese Partei „gehört“ eben nicht „dazu“. Vielmehr machte der Wunsch, ihren bis dahin schier unaufhaltsam scheinenden politischen Erfolg zu stoppen, keinen gering zu veranschlagenden Teil der Motivlage aus, woraus die Vollstrecker und Claqueure des Ausnahmezustands diesen ins Werk gesetzt und so lange aufrechterhalten haben.

Und was für das Parteivolk der Etablierten so prima funktioniert hat, galt für alles sonstige Volk in gesteigertem Maße. Mit „Corona“ ließ man das in Artikel 8 des Grundgesetzes garantierte „Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“ schlankweg in Rauch aufgehen. Eine Einschränkung dieses Rechts „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“ gestattet der Artikel in seinem Absatz zwei an sich nur für „Versammlungen unter freiem Himmel“. Nun aber stand jegliche Versammlung, ob draußen oder drinnen, unter dem Vorbehalt des alles deckelnden Infektionsschutzes und folglich die in geschlossenen Räumen sozusagen naturgemäß erstrecht.

Kampf gegen Rechts

In „Plattform am Ende“ habe ich darauf hingewiesen, dass ohne die Versammlungsfreiheit auch das fürs Proletariat so wichtige Recht, frei und ohne staatliche oder sonstwie fremde Einmischung zu Koalitionen sich zu verbinden, mit dem schließlich auch das Streikrecht steht und fällt, „zur Makulatur“ werde.[10] Aber es stimmt natürlich: Ein „ernstzunehmendes“ gar „kämpfendes … Proletariat“, wie es die mit derjenigen der „12 Thesen“ bzw. „Punkte“ wohl weitgehend identische Autorenschaft der „Hyste­rie in der Pandemie“ als Voraussetzung eines „diktatorische[n] Großangriff[s]“ auf eben dieses Proletariat für unabdingbar hält, war und ist nirgends auszumachen. Stattdessen hat alles, was an organisierter Vertretung und Artikulation lohnabhängiger Interessen im Lande noch vorhanden ist, seien es die SPD und die Linke oder die großen Gewerkschaften, von Beginn an und vorneweg für das Maßnahmenregime mobil- d. h. sein Fußvolk immobil gemacht. Das mit dem Beifall von dieser Seite bedachte Kassieren eines zentralen Elements lohnabhängiger Wehrhaftigkeit durch den Staat war insofern bloß ein Beifang.

Dennoch. Die Mobilmachung gegen „Corona“ richtete sich vordergründig zwar gegen eine angeblich die Volksgesundheit attackierende Krankheit, nahm aber hauptsächlich die Gestalt sogenannter „Maßnahmen“ an, die erklärtermaßen nichts mit der Behandlung von Krankheiten zu tun haben. Und alle Zweifel an der gesundheitlichen Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen standen von vornherein unter dem Verdikt, in Wahrheit finstere politische Absichten zu verfolgen. Es ging bei „Corona“ also niemals ernsthaft um Gesundheit, sondern um eine Gelegenheit zur Stabilisierung des etablierten Politikbetriebes und seiner Apparate im Wege der Entgrenzung ihrer Zuständigkeiten und Einflussnahmen. Der Erfolg dieser Stabilisierung ist durchaus sehr gut ablesbar an einer bis in den diesjährigen Sommer anhaltenden Trendumkehr bei den Ergebnissen aller neun in diese Zeit gefallenen Wahlen zu Landtagen und zum Bundestag[11]. Die im Laufe ihrer noch jungen Existenz zu einem Sammelpunkt und politisch relevanten Ausdruck aller oppositionellen Stimmungen im Lande avancierte AfD hatte bei diesen Wahlen durchweg Verluste zu verzeichnen. Dies im scharfen Kontrast zum Trend in der Zeit vor „Corona“.

Seit dem August 2014 bis zum Herbst 2018 nämlich war die AfD, im Zuge der Euro-Krise im April 2013 gegründet, in einer ununterbrochenen Serie erfolgreicher Landtagswahlen in alle 16 Landesparlamente eingezogen. In 15 davon auf Anhieb. Nur in Hessen brauchte es, nachdem die Partei im September 2013, mit 4,1 Prozent erstaunlich knapp fürs erste Mal, an der Fünfprozenthürde gescheitert war,[12] am 28. Oktober 2018 einen zweiten Anlauf. Und die Serie ihrer Wahlerfolge ging 2019 weiter. In Bremen Ende Mai verbesserte sie ihr Wahlergebnis von 2015 zwar nur geringfügig, aber in Brandenburg und in Sachsen konnte sie am 1. September ihre knapp zweistelligen Wahlergebnisse von 2014 mehr als verdoppeln. In beiden Ländern stellte die AfD nun die zweitgrößte Fraktion im Landtag. In beiden Ländern hatte die bis dahin regierende Koalition aufgrund der deutlichen Verluste der sie tragenden Parteien ihre Mehrheit verloren, und es mussten neue Koalitionen gebildet werden. Und dann kam Ende Oktober die Landtagswahl in Thüringen, deren Ergebnis, wie gesehen, die das Geschehen im Politik- und Medienzirkus dominierende Kamarilla mit ihrem stattlichen Gefolge schließlich kopfstehen ließ.

Erst Corona hat diese Erfolgsserie der AfD gestoppt – jedenfalls bis in diesen Herbst. Freilich ohne dass deshalb die Beschwörung der Gefahr von „rechts“ und der Kampf dagegen erlahmt wäre. Im Gegenteil. Der postmoderne Antifaschismus nahm jetzt erst richtig Fahrt auf und labelte alles, was dem autoritären Gesundheitsregime nicht willig zur Hand ging oder gar, und sei es ganz leise, Kritik äußerte, als „rechts“ oder jedenfalls – welch schönes neues Wort! – „rechtsoffen“. Ob jemand „rechts“ ist oder nicht, war dann auch sehr bald im Straßenbild zu erkennen: „Rechts“ zeigte man sein Gesicht.

Unter diesem Anschein einer grassierenden Politisierung von Dingen, die der Politik bislang eher ferngelegen hatten, hat indes, wie mir scheint, vor allem die Entpolitisierung aller auf der Vorderbühne als „Politik“ posierenden Betriebsamkeit eine enorme Beschleunigung erfahren. Denn schon die politisch drapierte Aufregung wegen eines mit der AfD angeblich heraufdämmernden Faschismus’, die unmittelbar vor Corona ja nur ihren Höhepunkt erreicht hatte, war im Grunde ziemlich unpolitisches Theater, in dessen Kulissen weitaus profanere, den Politbetrieb selbst und seine Pfründe betreffende Interessen verfolgt wurden. Und ein Blick in die Wahlprogramme zur Thüringer Landtagswahl, die diesen jüngsten Akt des Schauspiels eingeleitet hatte, erhärtet diese Diagnose.

Deutsche Zustände

Die Dramatik, zu der das Wahlergebnis schließlich geführt hat, wird in den Wahlprogrammen insbesondere derjenigen Parteien, die im nachfolgenden Februar wegen eines kaum mehr gutzumachenden politischen Unheils den größten Lärm geschlagen haben, wenig bis gar nicht kenntlich. Bei der Linken und der SPD findet die zum Beelzebub erkorene AfD jeweils nur einmal eher beiläufig im Wahlprogramm Erwähnung,[13] bei den Grünen, deren Programm mit 150 engbedruckten Seiten, weil besonders geschwätzig und voller bis zur Peinlichkeit „Natur“ verklärender, schlechter Lyrik, das umfangreichste ist, gar nicht. Die wirklichen Streitfragen wie etwa die sogenannte Energiewende, der Umgang mit einer vermehrten Migration oder die Sanktionen gegen Russland wegen dessen Annexion der Krim etc. werden einesteils gar nicht thematisiert, andernteils aber als streitig, weil wegen inkompatibler Interessen politisch umkämpft, unkenntlich gemacht und auf Kosten ihres sachlichen Gehalts stattdessen zu Fragen von Sein oder Nichtsein einer imaginären, schicksalhaft vereinten Menschheit bzw. lieber noch aller Flora und Fauna unseres Globus’ aufgeblasen und so jeder ernst­haften Debatte entzogen.

Das mit einigem Abstand sachlichste, gehaltvollste und vor allem streitbarste Wahlprogramm hatte seinerzeit die AfD vorgelegt, dessen mit „Liebe Thüringer!“ überschriebene Einleitung die etwas zu freundlich grinsenden Köpfe der beiden Landessprecher Stefan Möller und Björn Höcke verunzieren.[14] Von der dumpf volkstümelnd demagogischen Rhetorik des Herrn Höcke findet sich indes, wenn man von der hier und da eingestreuten zweifelhaften Bemühung eines sogenannten „Patriotismus“ absieht, so gut wie nichts darin. Stattdessen eine sehr kenntnisreiche, ins Einzelne gehende Kritik der die Republik wie den Freistaat bestimmenden Politik, aus welcher dann, was die AfD positiv dagegensetzt, meist recht klug entwickelt wird. Manches darin erweist sich angesichts unserer jüngsten Gegenwart sogar als ausgesprochen weitsichtig. So zum Beispiel, wenn da einmal von „der fehlgeschlagenen Energiewende“ die Rede ist, von deren Kosten man „Unternehmer und Verbraucher … entlastet“ sehen möchte.

Dafür, dass die AfD bei der Kür des Ministerpräsidenten am 5. Februar den im dritten Wahlgang von der FDP ins Rennen geschickten Thomas Kemmerich unterstützt hat, hätten im Übrigen die Wahlpro­gramme, auf deren Grundlage die im Landtag vertretenen Parteien dort saßen, eine ganze Reihe solider Argumente geliefert, wenn denn danach gefragt worden wäre. Denn namentlich das Pro­gramm der FDP, das sich über die AfD zwar genauso ausgeschwiegen hatte wie das der Grünen, wies gleichwohl eine beträchtliche Übereinstimmung mit dem der AfD auf, aber auch – mit einigen Abstrichen – das der CDU. Ein Umstand, der eine förmliche Regierungskoalition der drei Parteien, so denn Wahlprogramme noch etwas bedeuteten, durchaus nahgelegt hätte.

Und ja: Eine solche Regierung, für die das Wahlergebnis eine durchaus hinreichende, wenn auch nicht gerade üppige Mehrheit ergeben hatte, wäre beileibe „keine faschistische Regierung“ gewesen, sondern, in der Formel der „12 Thesen“ ausgedrückt, „eine rechts-konservative“ oder vielleicht genauer eine rechts-liberale Regierung – nur halt in der Thüringer Provinz und nicht erst, wie es im Dezember 2019 die „Thesen“ noch prospektiv zu erzwingen vorgeschlagen hatten, anderthalb Jahre später im Bund. Dessen energisches Veto stand nun freilich dem Zustandekommen einer solchen Regierung wohl entscheidend im Wege – auf der anderen Seite allerdings fleißig befeuert durch ein mit antimodern-völkischer Rhetorik sich ausstaffierendes Image der AfD insbesondere in Thüringen, dort liebevoll ge­pflegt vor allem von deren Führungsfigur Björn Höcke, die sich namentlich bei der jüngeren Klientel gerne martialisch als neuer (Un-)Heilsbringer produziert.[15]

Darin nicht zuletzt liegt das derzeitige Elend der deutschen Zustände – die sich leider kaum mehr auf Deutschland zu beschränken scheinen – begründet: Der autoritäre Charakter setzt sich auf allen Seiten, ob regierungsnah oder oppositionell, letztlich durch und beherrscht dann überall die Szene. Je mehr Krise, desto ungehemmter. Für kritische, sich ein selbständiges Urteil vorbehaltende Geister wird unterdessen die Luft immer dünner.

Hätte es das Tabu nicht gegeben, mit dem das Establishment in Politik und Medien die AfD belegt hat, die AfD hätte es wohl erfinden müssen. Ihr demagogischer Nimbus wäre jedenfalls bei einer Thüringer Landesregierung Kemmerich mit förmlicher Beteiligung der AfD, die den Regierungschef ja immerhin gewählt hatte, zweifellos Gefahr gelaufen, einigen Schaden zu nehmen. Gern hätte man gesehen, wie Höcke und Co., mit ihrem Wahlprogramm von beherzteren Politikern als den Jammergestalten von CDU und FDP in Thüringen beim Wort genommen, sich aus der Affäre gezogen hätten.

„Antworten im Gestern“

Aber umgekehrt kann auch das demokratisch zertifizierte Establishment nicht gut verzichten auf gelegentliche Intonationen unverstellt völkischer Demagogie aus den Reihen der AfD oder anderweitige Manifestationen eines Gespenstes rechter Netzwerke, die sich gegen „die Demokratie“ verschworen haben. Sie sind ihm nicht nur äußerst nützlich als Mittel seiner Immunsierung gegen Kritik. Vielmehr hätte man ansonsten die allergrößten Schwierigkeiten, sich die Rivalin AfD beim Kampf um die Fleischtöpfe argumentativ auf Distanz zu halten.[16] Denn jenseits solcher aufseiten der AfD oftmals sicher wohlkalkulierter Entgleisungen in der Rhetorik bieten die artikulierten politischen Ziele der AfD keinerlei An­griffspunkte, die ihre strikte Ausgrenzung aus dem Bezirk des politisch Respektablen irgendwie recht­fertigen könnte.

Was diese Ziele angeht, hatte im Übrigen in vielerlei Hinsicht ein Satz aus dem Wahlprogramm der Thüringer CDU zur Landtagswahl – wohl eher versehentlich – den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn es darin an einer Stelle hieß:

„Ohne Antwort auf die Herausforderungen von heute und morgen ist auch die AfD, denn sie sucht diese Antworten im Gestern.“[17]

Das Programm der AfD zur letzten Bundestagswahl[18] zum Beispiel liest sich über weite Strecken insbesondere in seinen wirtschafts- und sozialpolitischen Teilen wie ein Wunschkatalog zur Restauration des rheinischen Kapitalismus von Ludwig Ehrhard über Willi Brandt bis zu Helmut Kohl, und es mutet wie eine bös ironische Pointe an, dass die Partei ausgerechnet in jenen Landesteilen am erfolgreichsten punktet, denen dereinst – in der historischen Konstellation, welcher die bundesdeutsche „soziale Marktwirtschaft“ selig vor allem zu verdanken gewesen war – der negative, von ihren Segnungen ausgeschlossene Part zugefallen war. Denn deren Einwohner waren nicht nur durch einen „eisernen Vorhang“ abgesperrt vom rheinischen Paradies, sondern hatten zudem just mit ihrer Unfreiheit, als Preis für ein paternalistisches, bloß leidliches Umsorgtsein in ihrem Pferch, dem Paradies hinter dem Vorhang erst zu seiner Blüte verholfen. Dass die Partei diesen Zusammenhang ihres programmatischen Anliegens ignoriert, kann aber genauso wenig der Grund sein, warum man sie zur politischen Verkörperung des Bösen schlechthin erkoren hat, wie das Anliegen selbst. In beiden Hinsichten weist die AfD vielmehr beachtliche politische Schnittmengen etwa mit der Linken auf. Und derlei Schnittmengen mit der einen oder anderen der arrivierten Parteien finden sich auf einer ganzen Reihe politischer Felder, die das Wahlprogramm der AfD beackert.

Man muss das Programm nicht mögen, man kann es sogar als insgesamt äußerst schädlich und seinen eigenen und den Interessen seinesgleichen diametral entgegengesetzt ansehen, aber einen einleuchtenden Grund, der Partei eine Sonderbehandlung zukommen zu lassen, die sie aus dem demokratischen Spiel kategorisch ausschließt und als politischen Paria brandmarkt, liefert das nicht.

Auch eine ernstgemeinte Sorge um das, was das Grundgesetz „die freiheitliche demokratische Grund­ordnung“ nennt;[19] die Sorge davor, dass maßgebliche Kräfte der AfD und ihres Umfelds hinter der demokratischen Fassade ihres Programms „in Wahrheit“ deren Beseitigung betrieben, kommt als Motiv des Furors „gegen rechts“ mittlerweile nicht mehr infrage, nachdem sich gezeigt hat, wie das im „Kampf gegen rechts“ zusammengerückte Lager seinerseits mit den Freiheitsgarantien des Grundgesetzes und der Bindung der Regierenden an Recht und Gesetz seit dem März 2020 umgesprungen ist und fortfährt, damit umzuspringen.

Affinitäten zum originalen deutschen Faschismus resp. Nazismus sind im Übrigen schon lange nicht mehr das Spezifikum irgendeiner einzelnen Partei, politischen Szene, bestimmter sozialer und kultureller Milieus; nichts, was nach rechts und links sortierbar wäre: Es ist das deutsche Milieu im Ganzen, ganz gleich ob links, mittig oder rechts gelabelt; es ist das allseits dankbar angenommene Erbe des Nationalsozialismus, die von links bis rechts beschworene sogenannte „solidarische Gesellschaft“, die weniger freiheitliche als demokratische Volksgemeinschaft des deutschen Postnazismus,[20] woraus unentwegt hier oder dort in immer anderen Varianten diese Ausdünstung aufsteigt und immer von neuem Geist und Sinne benebelt.

Zwischen Pest und Cholera

Nachdem „Großteile der Partei“ die Linke gar nicht daran denken, wegen der krachend verlorenen Bundestagswahl nun wieder einen mehr oppositionellen Kurs zu steuern, sondern eher wie eine „Juniorpartnerin der Ampelregierung“ agieren, sehen die Autoren des Updates der „Thesen“ aus diesem Frühjahr in dessen siebtem Punkt „das Ende der Partei als Zwitterwesen zwischen links-kleinbürgerli­cher und sozialistischer Partei“ sich abzeichnen. Es sei zu erwarten,

„dass gewisse Teile der Programmatik über Bord geschmissen werden. Womit jede Hoffnung beendet wäre, sozialistische Partei werden zu können.“

An welche bestimmten „Teile“ sie dabei denken, präzisieren sie leider nicht. Unter Punkt Acht ist nur reichlich pauschal die Rede von einer

„mit Gründung der WASG und fortgesetzt in ihrer Vereinigung mit der PDS zur LINKEN errichtete[n] Verteidigungslinie gegen härteste soziale Zumutungen des Kapitals“.

Nun stand aber jene Gründungsgeschichte der Partei die Linke zwar in der Tat im Zeichen einer der „härteste[n] … Zumutungen des Kapitals“ seit Bestehen der zweiten deutschen Republik, war aber zugleich von vornherein mit dem Manko belastet, dass eine „Verteidigung“ dagegen bereits weitgehend misslungen war, als die Parteibildung in Gang gesetzt wurde – nicht zuletzt, weil der Widerstand dagegen, übrigens nicht nur in der Sozialdemokratie und den von ihr beherrschten Gewerkschaften, sondern auch in der kleinen links davon organisierten arbeiterbewegten Szene, zu spät Fahrt aufgenommen hatte. Die erste wegen ihrer überraschenden Größe[21] wirklich eindrucksvolle Demonstration gegen diese „Zumutungen“ ging am 1. November 2003 in Berlin über die Bühne, nachdem bereits am 17. Oktober das letzte Gesetzespaket der Hartz-Reformen in dritter Lesung durch den Bundestag gebracht war.[22] Und danach erst begann die politische Trennung eines Teils der Sozialdemokratie von der großen Mutter – sowohl von der Partei als auch in den Gewerkschaften – in Gestalt der WASG vorsichtig, aber durchaus entschieden Form anzunehmen. Die „Zumutungen“ konnte das aber nicht mehr stoppen. Selbst das Verlangen nach deren Begrenzung im Wege der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns wusste die Schröderregierung unter Zuhilfenahme des absurden Arguments, dieser beeinträchtigte die Tarifautonomie der Gewerkschaften, im Sommer und Herbst 2004 durch ein kleines Pingpong mit den Spitzen der DGB-Gewerkschaften zu parieren.[23] Erst nachdem die Hartz-Gesetze eine knappes Jahrzehnt lang ungehemmt ihre Wirkung hatten entfalten können und der durch sie angestachelte Niedriglohn hinreichend massenhaft etabliert war, hat dann die zweite schwarz-rote Regierung unter Merkel im Juli 2014 einen sehr bescheidenen gesetzlichen Mindestlohn ab 2015 mit allerhand Umgehungsmöglichkeiten verabschieden lassen.[24] Es fragt sich also, was denn die Autoren der „12 Punkte“ des Näheren im Auge haben bei jener „Verteidigungslinie“, die im Zuge der Entstehung der Linken „errichtet“ worden sei und vom Erfurter Parteiprogramm „formuliert“ werde.

Eine wirkliche Verteidigung kam indes gleichwohl zustande, als es darum ging, die Erzwingung der sogenannten Tarifeinheit per Gesetz zurückzuweisen. Und hierbei hatte die Linke allerdings eine nicht unbeträcht­liche Rolle gespielt – wenn auch mit einiger Mühe, die aufzubringen sie zudem nicht lange genug durchgehalten hat.[25] Im Erfurter Parteiprogramm jedoch kommt die ganze Angelegenheit, um die zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung zwar eine erste Schlacht im Sinne lohnabhängiger Interessen erfolgreich geschlagen, aber der Krieg leider keineswegs beendet war, gar nicht vor. Stattdessen lauter unpräzise Bekenntnisse zu den allerbesten Vorsätzen und frommen Wünschen, die man in Sachen Streiks, gar politischen Streiks sowie Generalstreiks und dem entsprechenden Recht dazu hege.

Nicht ganz so trostlos sieht es hinsichtlich der Normalarbeitszeit aus. Hierzu formuliert das Parteipro­gramm immerhin:

„Durch die Reform des Arbeitszeitgesetzes soll die höchstzulässige durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden begrenzt werden.“[26]

Eine energische Kampagne für dieses Anliegen, verbunden mit der unabdingbar nötigen Aufklärung – die wohl nicht zuletzt eine Selbstaufklärung hätte sein müssen – darüber, was es mit einer solchen gesetzlichen Regulierung im Unterschied zu gewerkschaftlichen Arbeitszeitregelungen auf sich hat, hätte auch hier vielleicht wirklich eine Verteidigungslinie gezogen, die zu mehr getaugt hätte, als bloß mit guten Absichten zu winken. Indes weist schon der voluminös-geschwätzige Kontext, in dem dieser kurze Passus des Programms steht, auf das Schicksal hin, das die darin formulierte Idee in der politischen Praxis der Partei dann auch tatsächlich erlitten hat.[27] Geht er doch ziemlich unter zwischen einer Reihe anderer Passagen voll der bekannten frommen Wünsche nach Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich. Und so erweist sich auch dieses kleine programmatische Glanzstück als nur ein Farbtupfer der bunten Palette auf dem großen Reklameschild, mit dem die Partei begriffsstutzig und ohne ernste politische Ambitionen vor ihrem Publikum einherstolziert.

„progressive“ und „traditionelle“ Linke

Die bange Frage im neunten der „12 Punkte“, ob „die Partei noch in der Lage“ sei, eine solche „Verteidigungslinie“, die politisch nichts kostet, „weiterhin darzustellen“, wäre daher an sich unbesehen zu bejahen – hätte nicht die Linke inzwischen ganz andere Probleme. Denn richtig ist allerdings, dass die existentielle Krise, welche seit der Bundestagswahl sie erfasst hat und nicht wieder loslässt, ihr Pro­gramm im Ganzen kaum intakt lassen kann. Nur werden jetzt völlig andere Festlegungen und Glaubenssätze darin zum Streitpunkt.[28]

Unter dem ebenso hochtrabenden wie anspruchslosen Panier einer „progressiven Linken“ hat mittlerweile um eine Reihe von Funktions- und Mandatsträgern der Partei auf Bundes- wie auf Länderebene eine wohl eher kleinere, aber im Parteiapparat sicher nicht einflusslose Schar, bei der anscheinend ein alter Freund unserer Plattform, der Klimakarrierist Lorenz G. Beutin die Strippen zieht, sich versammelt und für den 3. Dezember zu einem „Vernetzungstreffen“ in Berlin aufgerufen.[29] Besonders am Herzen liegt diesen „Progressiven“ ein sogenannter „anti-faschistische[r] Grundkonsens der Partei und ihre demokratische Bündnisfähigkeit“, welches beides zusammen man sich getrost dahin übersetzen kann, dass sie die Anschlussfähigkeit der Linken an die Regierungspolitik im allgemeinen, wie insbesondere an die von Rot-Grün gewahrt wissen wollen. Diesen „Grundkonsens“, sehen sie nun durch die Parteiprominente Sahra Wagenknecht und ihren Anhang in der Partei aufgekündigt. Deren „Linkskonservatismus“ habe mit Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“ vom April 2021 ein „Gegenprogramm erhalten“,[30] das „unvereinbar mit dem Programm der Partei Die Linke“ sei. Eine Behauptung, die sie indes wohl mit Bedacht nicht versuchen, irgendwie zu begründen, sondern lieber ergänzen durch die ganz und gar luftige und zudem eigentlich völlig belanglose weitere Behauptung, jenes „Gegenprogramm“ befinde sich „im definitiven Kontrast zu den Werten und Überzeugungen, die Wähler*in­nen von einer progressiven Partei erwarten.“

Und obwohl sie dem dreimal Verfluchten attestieren, zwar „selten mehrheitsfähig“, immerhin „aber trotzdem weit in der Partei und ihren Gliederungen verbreitet“ zu sein, verlangen sie apodiktisch, „die Koexistenz mit dem Linkskonservatismus in der Partei zu beenden.“ Ein Verlangen das demnach kaum verbrämt die Spaltung der Linken und damit ihr Ende als bundesweit parlamentarisch präsente Partei in Kauf nimmt. Für ihr persönliches Fortkommen bliebe solchen „progressiven Linken“ dann nur das Unterkommen „bei den Grünen oder der SPD“, was laut junge Welt „von einigen Unterzeichnern“ des Aufrufs auch „derweil bereits diskutiert“ und „[a]us ‚SPD-Kreisen‘“ sogar mit der Bereitschaft quittiert werde, „diese Leute aufzunehmen.“[31]

Grund der neuerlichen Aufregung über Wagenknecht und ihren Anhang war ihre Rede am 8.9. in der Haushaltsdebatte des Bundestags, wobei in der Partei stärker noch als der Inhalt der Rede die Tatsache skandalisiert wird, dass die Fraktion Wagenknecht hat reden lassen. Das zum Skandalon Erklärte des Inhalts[32] allerdings, der vonseiten beider Ränder des Parlaments, von der Linken wie von der AfD, mit Beifall bedachte Vorwurf an die Regierung „einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun“ gebrochen zu haben, und die Forderung, man möge jetzt gefälligst „mit Russland über eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen“ verhandeln, befindet sich im allerbesten Einklang mit dem Wahlprogramm der Partei. Darin werden nicht nur generell „[u]nilate­rale Sanktionen der USA und EU, wie beispielsweise gegen … Russland“ als „völkerrechtswidrig“ abgelehnt, sondern auch „Verhandlungen über einen deutsch-Russischen [sic!] Vertrag“ gefordert, „um Versöhnung und Freundschaft zwischen Deutschland und Russland zu erreichen und zu verstetigen.“ Letzteres übrigens im Zusammenhang mit dem alten linken Gassenhauer, der „die Auflösung der NATO“ verlangt.[33]

Überhaupt ist zu konstatieren: Der antiamerikanische oder vielmehr antiwestliche Reflex, das in Krisenzeiten gleichsam automatisch einrastende Ressentiment, das seit Beginn des Ukraine-Krieges über den Stammtischen und Straßenmanifestationen des Antiregierungs-Protestes wieder mühelos die Lufthoheit innehat; der irrwitzige, hierzulande immer wieder gern geträumte Traum von einer Allianz deutschen Fleißes und deutscher Technik mit der weiten Seele und dem Rohstoffreichtum des großen Russland gegen den Westen: diese Schwüle echtdeutschen Strebens findet eine dazu geeignete politische Agenda eher im Programm der Linken vorformuliert als in dem der AfD. Während nämlich die AfD Deutschlands Mitgliedschaft in der NATO – jedenfalls „bis auf weiteres“ – als zentrales Element ihrer „Sicherheitsstrategie“ und die USA als derzeit „stärkste[n] Bündnispartner Deutschlands“ einstuft,[34] strebt die Linke nicht nur die Auflösung der NATO an, sondern will obendrein

„in jeder politischen Konstellation dafür eintreten, dass Deutschland aus den militärischen Strukturen des Militärbündnisses austritt und die Bundeswehr dem Oberkommando der NATO entzogen wird.“[35]

Den ziemlich dämlichen Schlager des diesjährigen Protestfrühjahrs und -sommers allerdings, den auch Sahra Wagenknecht gesungen hat,[36] es möge jetzt, nachdem Putin bereits das Gas durch die Pipeline „Nord Stream 1“ erst gedrosselt und schließlich ganz abgedreht hatte, „Nord Stream 2“ doch in Betrieb genommen werden, findet man unter den letztjährigen Wahlprogrammen nur in dem der AfD.[37] Die Linke hat sich (wie auch die SPD und die Union, auf deren Mist das ganze „Nord Stream“-Projekt gewachsen ist) darüber ausgeschwiegen. Gleichwohl passt der Song prima zum Tenor ihres Pro­gramms, worin zwar an zwei Stellen von den „Völkern der Sowjetunion“ bzw. „Ländern der ehemaligen Sowjetunion“ die Rede ist, beide Male aber nur Russland beim Namen genannt wird, nicht jedoch etwa Estland, Lettland und Litauen oder gar die Ukraine, also jene Länder der „ehemaligen Sowjetunion“, die – neben Polen – nicht nur von Anfang an dem Nord-Stream-Projekt sehr kritisch bis ablehnend begegnet sind,[38] sondern gewissermaßen naturgemäß, wann immer von „Versöhnung und Freundschaft zwischen Deutschland und Russland“ als einem besonderen deutschen Anliegen die Rede ist, sich wohlbegründete Sorgen machen.

„Wutwinter“

Einen Tag vor Sahra Wagenknechts jüngstem Auftritt im Bundestag hatte in der Generaldebatte zum Bundeshaushalt am 7.9., im Anschluss an die Reden des Oppositionsführers Merz und des Kanzlers, die Partei- und Fraktionschefin der AfD, Alice Weidel, sowohl der Politik der Ampel als auch der handzahmen Opposition der Union die Leviten gelesen. Gegen Ende ihrer Rede war sie auf die für den nächsten Tag zum xten Male anstehende Änderung des Infektionsschutzgesetzes zu sprechen gekommen. Das Gesetz mache „den Ausnahmezustand zur Dauereinrichtung und die Grundrechtseinschränkungen zum Regelfall“, hatte sie durchaus zutreffend befunden und die „Vermutung“ geäußert, man wolle damit „sich jetzt schon eine Handhabe sichern, um Demonstrationen gegen Ihre Politik durch die Hintertüre des Infektionsschutzes zu verbieten.“[39]

Indes macht es nicht den Eindruck, als wenn das politische Machtkartell es derzeit wirklich nötig hätte. Denn die Dinge liegen jetzt sehr anders als noch im Falle der Spaziergänge des vergangenen Winters und Frühjahrs. Diese, landauf und landab wahrhaft spontan vom Gefühl blanker Notwehr getrieben und oftmals die über sie verhängte Illegalität ignorierend, hatten das Vorhaben einer allgemeinen Impfpflicht – vom Kartell erst dreist geleugnet, dann aber fest zugesichert – schließlich gekippt. Anders als die zeitliche Überlappung im Frühjahr es vielleicht naheläge, hat der jetzige Protest aber einen direkt entgegengesetzten Charakter. Wendet er sich doch nicht gegen ein Vorhaben des herrschenden Kartells, sondern erwärmt sich für eines seiner alten Projekte, das inzwischen wegen der pulverisierten Geschäftsgrundlage notgedrungen fallengelassenen wurde. Das hat etwas gespenstisch Hilfloses und kontaminiert den Protest mit den Merkmalen des Invaliden, des von Politikastern und politischen Möchtegerns schlecht bloß Gemachten.

Schlimmer noch scheint es fast so, als hätte das politmediale Kartell höchstselbst für ein solches Ventil zum kontrollierten Dampfablassen ein bisschen Agitprop betrieben und so die diversen Protestszenen gewissermaßen in die Pflicht genommen. Jedenfalls haben namentlich die Leitmedien, als vom großen Protest noch fast nichts zu sehen und zu hören war, beflissen das überdimensionierte Stichwort von den „Volksaufständen“ aufgegriffen und hin und her gewendet, womit Frau Baerbock „vor möglichen innenpolitischen Folgen eines Gaslieferstopps gewarnt“ habe, wie etwa die Süddeutsche Zeitung schrieb.[40] Dass die Regierung und insbesondere deren grüner Part durch die deutsche Entscheidung, das russische Gas aus dem Sanktionskatalog herauszuhalten, ihren mit der Abhängigkeit von billigem russischen Gas bezahlten aberwitzigen deutschen Sonderweg der sogenannten Energiewende – wohl eher vergeblich – zu retten versucht hat, blieb in der Rezeption des Baerbockschen Geplappers bemerkenswert unterbelichtet. In den Protestszenen wird diese Tatsache jedenfalls bis heute glatt ignoriert und stattdessen die Mär kolportiert, Deutschlands Regierung habe mutwillig das russische Gas abbestellt und hätte jetzt Putin um Vergebung zu bitten – „verhandeln“ nennt Sahra Wagenknecht das.

Den „progressiven“ Linken, bei denen das Kriegsbeil zwischen Regierungslinken und ihren bewegungslinken Kritikern derweil auch offiziell begraben ist,[41] fällt dagegen der Part zu, Rot-Grün den außerparlamentarischen Arm zu machen, der als Protest verbrämt Regierungspropaganda auf die Straße trägt und das schlechte soziale Gewissen der Ampel-Regierung mimt, die ja doch – nicht wahr! – ganz anders könnte, wenn sie nicht den Klotz der FDP am Bein hätte.

Und so spielen sich auf unseren Straßen neuerdings hier und da ganz eigenartige Begegnungen einer bislang unbekannten Art ab. Nicht mehr „Links“ und „Rechts“ stehen sich da gegenüber, sondern „Progressiv“ und „Konservativ“, wobei die „Progressiven“ alle Not haben, die „Konservativen“, bei denen sich nolens volens traditionell Linkes und traditionell Rechtes bisweilen kaum mehr unterscheidbar miteinander mischt, sich vom Leibe zu halten.[42] Was diese ihrerseits gar nicht verstehen können, da man doch beiderseits sich eigentlich nur die beste Mühe gebe, den allseits heraufbeschworenen „Wutwinter“ anzuschieben. Und in der Tat ist man ja auf beiden Seiten ziemlich autoritär unterwegs auf der Suche nach der helfenden Hand einer höheren Macht. Haben sich die einen, weil sie mit guten Gründen der eigenen Regierung nicht mehr über den Weg und auch nichts mehr zutrauen, auf Putins Gas (und vielleicht noch etwas mehr) als augenblickliche Rettung aus der akuten Not fixiert, so wollen die andern eben jene eigene Regierung auf deren abenteuerlichem Kurs in den Galopp bringen. Auf beiden Seiten klafft ein Abgrund nicht nur zwischen hehren Wünschen und der hässlichen Wirklichkeit, sondern vor allem zwischen kraftmeiernder Rhetorik und den eigenen Mitteln, Taten sprechen zu lassen; Mittel, die bescheiden zu nennen ein Euphemismus wäre.

Wenig Hoffnung auf (bürgerliche) Restvernunft

In der Haushaltsdebatte Anfang September wiesen Redner der AfD daraufhin, dass hinsichtlich des Betriebs von Kernkraftwerken – von denen die letzten drei nach damaligem Stand am Ende des Jahres und nach der jetzige Beschlusslage der Regierung im April des kommenden Jahres abgeschaltet werden müssen – es bei Zugrundelegung der Voten der im Bundestag vertretenen Parteien eine Mehrheit für die Verlängerung der Laufzeiten gebe. Ein Gesetzentwurf der AfD dafür lag schon seit Anfang Juli vor und stand nun in vierzehn Tagen, am 22.9., in zweiter und dritter Lesung zur Abstimmung. Am selben Tag bequemte sich, reichlich spät, auch die CDU/CSU-Fraktion – wohl vor dem Hintergrund von Umfragewerten, die eine Mehrheit für eine Laufzeitverlängerung signalisieren –, einen eigenen dahingehenden Gesetzentwurf zur ersten Lesung vorzulegen, gegen den der AfD-Redner in der Debatte dazu „[i]nhaltlich … nicht viel einzuwenden“ hatte[43]. Der Entwurf der Union wurde an die Ausschüsse verwiesen, der Gesetzesantrag der AfD in gehabter Weise von allen andern Fraktionen in geschlossener Front abgelehnt.[44]

Ein alles in allem ziemlich groteskes, um nicht zu sagen übles parlamentarisches Spiel, das dem verhandelten Gegenstand, nimmt man auch nur die ausgetauschten Argumente zum Maßstab, sträflich unangemessen scheint. Das herkömmlich so genannte „bürgerliche Lager“ hat gegen Rot-Grün, das die Vabanque spielende Regierung bestimmt, eine parlamentarische Mehrheit. Es könnte also das Desaster, worauf der Kurs der Regierung nach seiner eigenen, vielfach artikulierten Ansicht zusteuert[45], stoppen und tut es nicht. Man hat anscheinend auf allen Seiten Geschmack gefunden an Politik im andauernden Krisenmodus und mag davon nicht mehr lassen.

Wenig Aussicht also, dass alsbald die bescheidene Hoffnung auf ein an sich längst dringend gebotenes Ende der Ampel und ihre Ablösung durch jene Union-FDP-AfD-Regierung sich erfüllt, zu welcher die „Thesen“ noch „die Bourgeoisie“ nicht zu Unrecht gerne nach der Bundestagswahl hätten gezwungen gesehen. Eine Regierung, welche die Abkehr von der „Energiewende ins Nichts“ (Alice Weidel) einleiten und Deutschlands unter Rot-Grün 1.0 schon einmal forcierten, seine Westbindung unterminierenden Sonderweg abbremsen könnte sowie last not least die unwiderrufliche und vollständige Beendigung von „Corona“ zu beschließen und die rückhaltlose Aufarbeitung aller darauf bezogenen „Maßnahmen“ und ihrer Folgen zu ermöglichen hätte – und im Übrigen, gewissermaßen ganz nebenbei, das Gespenst eines über die AfD unter- oder gar überirdisch sich ausbreitenden und schließlich sich etablierenden echten Neofaschismus sicherlich ein Stückweit bannen würde.

Gegenwehr und Widerstand der „Betroffenen“?

„Wehrt Euch – leistet Widerstand!“ ist eine Resolution betitelt, welche die Linke in Schleswig-Hol­stein, auf Antrag der Landes-AKL (daher vermutlich auch von Genossen unserer Plattform), Ende Oktober auf ihrem Landesparteitag beschlossen hat, der in einem weiteren Beschluss den Rauswurf Sahra Wagenknechts aus der linken Bundestagsfraktion fordert. Es komme, heißt es in der Resolution, jetzt

„darauf an, eine Verelendung breiter Kreise der Bevölkerung durch steigende Löhne und Gehälter, Renten und staatliche Transfairleistungen verhindern zu helfen.

Wir rufen die Betroffenen auf, sich zur Wehr zu setzen: Geht auf die Straße und protestiert! In den kommenden Tarifrunden dürfen von Gewerkschaftsseite keine Abschlüsse unter einem Inflationsausgleich vereinbart werden. Wir appellieren an alle lohnabhängig Beschäftigten: organisiert Euch in Gewerkschaften und Sozialverbänden und setzt Euch dort für Eure Forderungen ein!“

Das ist in bester Absicht zwar an sich nicht schlecht, aber dem Kontext nach, in dem es geschieht, leider wohl eher in den Wind gesprochen. Denn der Parteitag, der das beschloss, war, nach der Gesamtheit seiner Beschlüsse zu urteilen, ganz und gar beherrscht von jenen „progressiven Linken“,[46] die ihre Partei darauf einzuschwören versuchen, Rot-Grün das Wasser zu tragen, und gegen unerwünschten Protest auf der Straße den antifaschistischen Wächterrat mobilisieren, also sicher nicht im Traum daran denken, für so etwas wie den Sturz der Ampel durch eine bürgerliche Regierung sich zu erwärmen. Der wiederum wäre aber – dahin gingen ja, recht verstanden, im Grunde auch noch die Überlegung der „Thesen“ vom Dezember vor drei Jahren – zwar keine hinreichende, aber unabdingbar notwendige Voraussetzung, damit „von Gewerkschaftsseite“ so etwas wie wirklicher „Widerstand“, nämlich vor allem organsierte Gegenwehr gegen die ins Haus stehende „Verelendung breiter Kreise der Bevölkerung“ durch „die Betroffenen“ überhaupt in Betracht käme. Denn jene in den zwölf „Thesen“ bzw. „Punkten“ als „eleganter“ qualifizierte „Option“ einer Regierung von Rot-Grün plus X hat sich – wie schon einmal 1998 ff – längst auch wieder als das gegenüber einer ordinären bürgerlichen Regierung vorhersehbar deutlich größere, weil auf den Hasard „schöpferischer Zerstörung“ abzielende Übel erwiesen.

Ablesbar ist das, wie gehabt, nicht zuletzt am Taktieren der Gewerkschaften. Dass die „kommenden Tarifrunden“ die längst eingetretenen enormen Reallohneinbußen der „Betroffenen“ nicht wettmachen werden, war bereits ausgemacht, bevor sie angefangen haben, nachdem Verdi, wie zuvor erstrecht die IG Metall, schon mit ihren Forderungen weit unter der Inflationsrate geblieben sind. Was das für alle diejenigen bedeutet, die ohne jeden tarifvertraglichen Schutz ihr Brot verdienen, mag man sich gar nicht ausmalen. Es liegt deshalb in der traurigen Logik der Lage der Dinge, dass das „Wir“ der Resolution es mit dem Apell an „die Betroffenen“ nicht bewenden lässt, sondern „Wir … zweitens“ höchst selbst in den Ring steigen, um „wirksame staatliche Maßnahmen“ zu „fordern“, was angesichts des desolaten Zustandes dieses „Wir“, das da „fordert“, jedoch daherkommt wie der aufstampfende Trotz eines bettelnden Kindes an der Supermarktkasse.

Aber es zählt halt die schneidige Geste, das Reklameschild, auf dem ein Katalog staatlicher Wohltaten prangt, der mit „fortlaufende[r] Erhöhung von Renten“ etc. beginnt und bei einer ominösen „Vergesellschaftung der Energie- und Immobilienkonzerne“ endet. An irgendeine Chance durchschlagend zum Segen für „die Betroffenen“ ausfallender Realisierung auch nur eines der darin gelisteten Posten, glaubt sicher niemand aus jenem „Wir“, das da spricht. Bei der „Deckelung der Energiepreise für den Grundbedarf“ ist Streit über die Höhe von Preis und Größe des Grundbedarfs zudem längst programmiert. In der AKL hat sich schon vor einem Jahr jemand gegen Benzin, das „zu billig verkauft“ werde ausgesprochen und es als es einen „strategische[n] Fehler“ bezeichnet,

„die unbedingt notwendige Verhaltensänderung im Alltag der Menschen als zweitrangig gegenüber Eingriffen in die Produktionsweise“ darzustellen und „individuelle Mitverantwortlichkeit“ im Falle „klimaschädlichen Verhaltens“ zu „leugnen“.[47]

Die „Progressiven“ indes haben sich gewiss gern mit einer Resolution geschmückt, deren Inhalt, so wie die Dinge liegen, niemand wehtut oder gar irgendwem gefährlich werden kann, aber geeignet ist, dem Wahnwitz der rot-grünen Agenda, der sie sich verbunden fühlen, mit der illusorischen Aussicht seiner „sozialen“ Polsterung einen harmlosen Anstrich zu verpassen. Was jedoch unsere Plattform-Genossen sich davon versprechen, weiß bis auf weiteres der Himmel.

Bonus Track

Wäre es nicht endlich an der Zeit, sich aus dem unguten Zusammenhang zu lösen, in dem einem die besten eigenen Absichten derart – wie sagt man es: verunglücken, missbraucht werden, zu ihrem eigenen Zerrbild geraten? Zahlt sich nicht der zweifellos fällige Preis, jegliche politische Heimat zu verlieren, allemal leichter als immer wieder solche Kompromisse einzugehen, die von Mal zu Mal mehr von der Substanz aufzehren, die wir – dachte ich – dereinst gemeinsam für politisch unhintergehbar gehalten haben?

Eine neue, eine bessere politische Heimat sehe auch ich derzeit nicht. Allenfalls hier und da – im Inter-Netz oder auch auf Papier – Publikationsorte, an denen einige auch, aber zum Glück nicht nur politisch denkende Köpfe sich regelmäßiger äußern, von denen sich in Bezug auf das, was ohne uns, um uns wie mit uns unweigerlich geschieht, etwas lernen ließe und über deren Gedanken dazu sich auszutauschen sich lohnen könnte. Köpfe, deren Grundanschauungen meist ziemlich quer zu den meinen, zu denen von uns Marxmenschen liegen. Was wiederum, stellt man das Ausmaß dessen in Rechnung, was von diesen marxmenschlichen Anschauungen, weil sträflich unaufgearbeitet, vom Verfall bedroht oder gar bereits ganz ruiniert ist, durchaus seine große Berechtigung hat.

Eine ganz kleine solcher liegengelassenen Bau- oder besser vielleicht gesagt: Grabungsstellen liegt übrigens mitten in unsrem Zirkelchen. Ihr wird, wenn mir nichts dazwischen kommt, mein nächstes Elaborat, das zu großen Teilen schon fertiggestellt ist, sich widmen: Es wird darin um die, was die schriftlichen Spuren angeht, einerseits durchaus vielversprechend begonnene, dann aber weitegehend unterbliebene Diskussion von möglichen „Fernwirkungen des Faschismus“ (so ein seinerzeit verwendeter Ausdruck) auf unsere Jetztzeit gehen (deren Erweiterung zu „Fernwirkungen“ auch des Stalinismus ich für geboten halte). …



[1] Diese reichten sie in unserem Zirkelchen in einer Email mit dem Betreff „Diskussionsangebot“, datiert vom 20.4.2022, herum.

[2] Dies, wenn auch in viel kleinerem Format, durchaus nicht unähnlich der Rolle der SPD im Kaiserreich, nachdem sie am 4. August 1914 die Kriegskredite parlamentarisch mitgetragen hatte.

[3] Vgl. dazu auch mit Blick auf den Ukraine-Krieg Gérard Bökenkamp: Putins Werk und Bidens Beitrag, 19.8.2022 auf achgut.com.

[4] Zu Höcke und seinem „Flügel“ sehr instruktiv, obgleich sehr schlecht redigiert, finde ich den Artikel vom 12.7.2021 auf Audiatur-Online „Wie halten es Björn Höckes Vordenker mit Israel?“

[5] „AfD und Linkspartei haben zusammen die Mehrheit der Mandate. Nach den Grundrechenarten gibt es damit ohne eine der beiden Parteien keine Mehrheit im thüringischen Landtag. Das ist schlichte Rechenkunst. Bei der stärkeren Aufsplittung der Parteienlandschaft, die wir ja auch im Bundestag haben, werden wir uns wahrscheinlich daran gewöhnen müssen, dass es Minderheitsregierungen gibt. Es ist niemand gezwungen, Herrn Ramelow zu wählen. Aber es muss einen Weg geben, dass es eine regierungsfähige Mehrheit gibt“, so der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im Phoenix-Tagesgespräch am 10.2.2020.

[6] SPD Rheinland-Pfalz: Malu Dreyer zu den Ereignissen in Thüringen (5.2.2020). Eine der wenigen das Maß wahrenden politischen Stimmen kam von Dreyers Stellvertreter in ihrer Regierung Volker Wissing, zugleich Landesvorsitzender der FDP Rheinland-Pfalz (und mittlerweile im Kabinett Scholz Minister für Digitales und Verkehr). Kemmerich habe einen Beitrag geleistet, das Land Thüringen überhaupt regierbar zu halten, fand er. Aber das Land Thüringen stehe jetzt „vor einer schwierigen Situation. So eine Regierung ohne klare Mehrheiten ist kein leichtes Unterfangen.“ Ungeachtet der Wahl Kemmerichs mit Stimmen der AfD werde es keine Zusammenarbeit, keine Gespräche und keine Vereinbarung mit der AfD geben. (Süddeutsche Zeitung, 5.2.2020)

[7] Der ganze Wortlaut ist z. B. der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 49/2021 vom 17. Juni 2021 zu entnehmen, das über eine Beschwerde der AfD zu entscheiden und für den 21 Juli die mündliche Verhandlung in der Sache anberaumt hatte.

Das Urteil, das der Beschwerde stattgab und also der Kanzlerin die Verletzung eines Artikels (21) des Grundgesetzes attestierte, wurde dann ein knappes Jahr später verkündet. Da war die Kanzlerin aber bereits ein halbes Jahr lang keine mehr, hatte also keine politische Havarie zu befürchten und konnte als Zivilistin die Rüge des höchsten deutschen Gerichts locker wegstecken. Den von der AfD seinerzeit zugleich gestellten Eilantrag zur Feststellung der Rechtswidrigkeit des Kanzlerworts, das eine Zeitlang auch auf den Websites des Kanzleramts und der Bundesregierung prangte, hatte das Gericht noch ohne Not abschlägig bescheiden können, nachdem es auf den Websites zuvor bereits glücklicherweise gelöscht worden war. In der Bildzeitung hieß es einen Tag nach der Urteilsverkündung in der Hauptsache: „Grund für die Löschung soll nach BILD-Informationen ein dezenter Hinweis aus den Reihen des Gerichts gewesen sein.“ Ein Dementi erhielt die Zeitung auf Nachfrage beim Gericht nicht.

[8] Die Linke zum Beispiel war nicht bereit, ohne Zusicherung hinreichender Unterstützung seitens der CDU Bodo Ramelow noch einmal ins Rennen zu schicken, damit nicht dieser womöglich dann in dieselbe Lage gerate wie am 5.2. Kemmerich. Eine dahingehende Idee hatte der Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag Alexander Gauland nämlich zwischenzeitlich ins Spiel gebracht.

[9] Was die SPD und die CDU betrifft, vgl. man, was ich dazu im III. Abschnitt von „Corona-Zeiten-Wende“ unter der Zwischenüberschrift „‚Unser System‘“ festgehalten habe.

Die Linke hat ihren für Ende Oktober 2020 anberaumten Parteitag ausfallen lassen und Ende Februar 2021 einen sogenannten „Online-Parteitag“ abhalten. Einen solchen hatte schon Ende September 2020 mit viel nicht nur technischem Schnickschnack zuerst die CSU durchgeführt, ein Jahr später, kurz vor der Bundestagswahl ging’s dann aber wieder, wie’s im Neusprech so schön heißt, „in Präsenz“. Die Grünen parteitagten seit Corona dagegen dreimal nur noch „digital“, zuletzt dieses Jahr im Januar. Erst der jüngste in diesem Herbst durfte wieder „in Präsenz“ stattfinden.

Einzig die FDP, deren Chef schon Ende April 2020 der Bundeskanzlerin mit einiger Verve „die große Einmütigkeit in der Frage des Krisenmanagements“ aufgekündigt hatte“, scherte im September 2020 einmal aus und hielt, nicht ohne einen gewissen Trotz, ihren Parteitag in Berlin „in Präsenz“ ab, um dann freilich im Mai 2021 auch brav auf „online“ zu schalten.

[10] Siehe dort die Fußnote 27.

[11] Dabei stand es lange Zeit sogar infrage, ob die Bundestagswahlen Ende September 2021 überhaupt stattfinden werden. Es gab ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, das die Möglichkeiten ihrer Verschiebung ventilierte. Die Ergebnisse der Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im März sowie in Sachsen-Anhalt im Juni, bei denen besagte Trendumkehr bereits erkennbar war, dürften schließlich wohl eine Entscheidungshilfe in dieser Frage gewesen sein.

[12] Die Wahl fand zeitgleich mit der Bundestagswahl statt, bei der die AfD mit 4,7 Prozent noch knapper die Fünf Prozent verfehlte.

[13] Bei beiden geht es an den besagten Stellen um das Thema „Sicherheit“. „Wir widersetzen uns den Angriffen von CDU und AfD auf das Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit/Gewaltprävention und Mitbestimmung“, heißt es bei der Linken ziemlich weit hinten, auf S. 92. Die SPD, die mit 30 Seiten das kürzeste Programm vorgelegt hatte, geht es immerhin um „die enge Bindung zwischen der AfD und rechtsradikalen Gruppierungen“, die „die Notwendigkeit für ein Überwachungsorgan“, nämlich den Thüringer Verfassungsschutz dokumentiere (s. dort S. 18).

[14] Meine Heimat, mein Thüringen. WAHLPROGRAMM der Alternative für Deutschland für die Landtagswahl in Thüringen 2019.

[15] Vgl. das Video von seinem Auftritt bei der Jungen Alternative am 17.1.2017 in Dresden: www.youtube.com/watch?v=WWwy4cYRFls

[16] Das gilt übrigens zwar bei weitem nicht nur, aber in besonderer Weise für die Linke. Hat sie doch allen Grund, es der AfD zu neiden, dass diese ihren Ehrgeiz von einst nicht ohne Erfolg beerbt hat, durch „eine andere Politik“ dem Politikverdruss eine vernehmbare Stimme zu geben.

[17] Thüringen: Heimat mit Zukunft. #Aufbruch2019. Regierungsprogramm der CDU Thüringen zur Landtagswahl am 27. Oktober 2019, S. 3.

[19] Vgl. Art. 21, Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes.

[20] Vgl. dazu im Archiv der proletarischen Plattform unter übergänge : Texte: Antifa im Postfaschismus, S. 3 f.

[21] Selbst die Veranstalter hatten damals nur 30.000 in Berlin erwartet, und dann wurden es schließlich 100.000.

[24] Vgl. Webarchiv des Bundestags: „Mindestlohn von 8,50 Euro ab 2015 beschlossen“ (www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2014/kw27_de_tarifautonomie-286268)

[25] Siehe dazu unter der Zwischenüberschrift „Die Linke und die Koalitionsfreiheit. Ein Lehrstück“ im I. Abschnitt von Corona-Zeiten-Wende (im PDF S. 17 ff).

[26] Die Linke: Parteiprogramm. 4.1 Wie wollen wir leben? Gute Arbeit, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit (im PDF S. 36).

[27] Vgl. hierzu u. a.: „Corona und das Arbeitszeitgesetz. Grober Unfug der LINKEN im Bundestag“ sowie „Palaver um die ‚Vier-Tage-Woche‘. Zu einigen einschlägigen Äußerungen von Bernd Riexinger, Katja Kipping (DIE LINKE) und Jörg Hofmann (IGM)“ auf den Seiten unserer Plattform.

[28] Wenn daher die Autoren unter Punkt Elf zunächst schreiben: „Nur in ganz geringem Maße konnten wir mit Fragen der Arbeiterbewegung in der Partei Einfluss nehmen“, beschreiben sie, ohne das freilich zu reflektieren, wohl vor allem den Ist-Zustand nicht so sehr unseres „Einflusses“ als vielmehr des Verhältnisses der Partei zu dem, was als „Arbeiterbewegung“ noch irgend lebendig ist. Das war aber keineswegs immer so, und daher auch unser „Einfluss“, der vielleicht besser bezeichnet wäre als unsere Teilnahme an den Auseinandersetzungen in der Partei nicht gar so marginal und irrelevant wie jetzt.

Was andererseits „[u]nsere strategisch-programmatischen Überlegungen zur Aufhebung der Lohnarbeit, der Klassen und des Staates“ angeht, „konnten wir“ m. E. sie nicht nur in der Partei die Linke, sondern überhaupt irgendwo vor allem deshalb „nicht platzieren“, weil wir, wie es das sich hinziehende Gemurkse um ein „Aktionspro­gramm“ und um dessen „Einleitung“ gezeigt hat, damit auch unter uns noch lange nicht auch nur halbwegs im Reinen sind. (Nun ja, dazu wird es – jedenfalls meinerseits – demnächst etwas „Butter bei die Fische“ geben.)

[29] Den Aufruf findet man hier: https://progressive-linke-muessen-reden.de/aufruf/aufruf-und-unterzeichnerinnen/. Und nachdem das Treffen inzwischen stattgefunden hat, gibt’s jetzt auch noch eine „Erklärung des Treffens #DieLinkeMitZukunft“.

[30] Vgl. auf den Seiten unserer Plattform dazu: „Zwischen Pest und Influenza. Die Kandidatenkür der LINKEN NRW zur Bundestagswahl“.

[31] Ende der Koexistenz in junge Welt, 15.10.2022. – Zusatz: Vom soeben stattgehabten Landesparteitag der Linken in Schleswig-Holstein, der zwei namhafte Unterzeichner des Aufrufs angehören, wird der Beschluss vermeldet, den Parteivorstand aufzufordern, auf den Ausschluss Sahra Wagenknechts aus der Linksfraktion im Bundestag hinzuwirken. „Wer meint, andere demokratische Parteien als gefährlicher als offen rechtsradikale Parteien diffamieren zu müssen“, heißt es u. a. in dem Beschluss, habe „aus der Geschichte nichts gelernt“. Womit offenbar angespielt wird auf Wagenknechts Qualifizierung der Grünen als die „gefährlichste Partei, die wir aktuell Bundestag haben“.

[32] Nachlesbar im Protokoll der Plenardebatte 20/51, S. 5428 f (https://dserver.bundestag.de/btp/20/ 20051.pdf#IVZr6)

[33] Die Linke: Zeit zu handeln! Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit. Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021, S. 144 sowie S. 137.

[34] Deutschland. Aber normal. Programm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag, S. 64.

[35] Die Linke: Zeit zu Handeln! a. a. O. S. 137. Die ganze Passage des Wahlprogramms ist übrigens wörtlich übernommen aus dem Erfurter Grundsatzprogramm (siehe dort S. 69), mit dem einzigen, im Wahlprogramm eingeschobenen Zusatz der oben zitierten Forderung von „Verhandlungen über einen deutsch-Russischen Vertrag“ etc..

[36] Die Welt: „Putin lacht sich tot über uns“, Video vom 7.7.2022.

[37] Deutschland. Aber normal. … S. 65, 178 u. 194

[38] Vgl. dazu bei achgut.tv das Video vom 8.10.2022 „Durchsicht: Die Pipeline-Affäre“ mit Gunnar Heinsohn.

[39] Protokoll der Plenardebatte 20/50, S. 5323 (https://dserver.bundestag.de/btp/20/20050.pdf)

[40] Folgen von Gas-Stopp: Baerbock befüchtete Volksaufstände, SZ am 21.7.2022

[41] „die Tatsache, dass die Differenzen über die Frage, ob Linke regieren sollen oder nicht, … lange höher gewertet wurden als der Kampf um den progressiven Charakter der Partei“, solle nicht länger „ein Zusammengehen in der zweiten“ Sache blockieren, heißt es in dem oben (siehe Fn. 29) bereits zitierten Aufruf.

[42] Manchmal, in der Provinz, wohl eher, wie ich selbst es erlebt habe, als bizarrer Slapstick, ein anderes Mal aber, etwa in der Hauptstadt, leider auch (siehe www.magazinredaktion.tk/corona98.php) in einer Weise, die dem bösen Wort von den „Sozialfaschisten“, das sowieso nur bedingt zu Recht in Verruf geraten ist, neuen Sinn und Anschauung verleiht.

[43] Protokoll der Plenardebatte 20/54, S. 5787 (dserver.bundestag.de/btp/20/20054.pdf#IVZr22).

In ihrem Beitrag zur Debatte über den Gesetzentwurf stellte die FDP-Abgeordnete Judith Skudelny die Frage:

„ … wenn wir sicherstellen können, dass in einem Reservebetrieb die Kernkraftwerke funktionsfähig sind, wenn wir Geld dafür in die Hand nehmen – ja, warum in Gottes Namen nutzen wir sie dann nicht auch?“ (ebd. S. 5791)

Den Beifall, den sie dafür nicht nur von ihrer eigenen Fraktion, sondern auch vonseiten der Union und der AfD erhielt, kommentierte Beatrix von Storch von der AfD zutreffend mit dem Zwischenruf:

„Das war die Mehrheit hier im Hause, die gerade geklatscht hat!“

[44] Wie es so tickt an dieser Front, das veranschaulicht recht drastisch die folgende Begebenheit: In der Haushaltsdebatte am 8.9. bezeichnet ein Redner der AfD die Abgeordneten der Union und der FDP als „erbärmliche Heuchler“, sofern sie dem Gesetzesantrag der AfD zur Laufzeitverlängerung nicht zustimmen und fängt sich dafür von der Bundestagspräsidentin umgehend eine Rüge wegen unparlamentarischen Verhaltens ein. Dies, nachdem am Tag zuvor eine Britta Haßelmann von den Grünen im Anschluss an die Rede Alice Weidels diese und ihre Fraktion völlig unbeanstandet als „Rattenfänger von rechts“ bezeichnen durfte, gegen deren „Menschenfeindlichkeit“, wo immer „Herr Merz, Herr Scholz oder“ sie selbst ansonsten stehen, sie alle „zusammen­stehen“ als „die demokratischen Kräfte im Land“. (Nachlesbar in den Protokollen der Plenardebatte 20/50, S. 5324 sowie der Plenardebatte 20/51, S. 5438)

[45] Zum Beispiel:

„Als einzige Regierung in Europa zeigt diese Regierung mehr Angst vor der angeblichen Hochrisikotechnologie Kernkraft als vor der Gefahr durch Inflation, Rezession, sozialem Elend und Deindustrialisierung.“ (Mark Helfrich, CDU/CSU, Plenardebatte 20/54, S. 5989)

[46] Die getroffenen Personalentscheidungen unterstreichen das. Mit Luca Grimminger wurde nämlich einer der Unterzeichner des weiter oben zitierten Aufrufs der Progressiven zum neuen Landessprecher gekürt. Die Beschlüsse des Landesparteitags, darunter auch die komplette Resolution, aus der vorstehend zitiert wurde, finden sich hier: http://www.linke-sh.de/partei/landesparteitag/beschluesse-1.

[47] Rainer Beuthel: Überlegungen zur Wahlniederlage der LINKEN, 17.10.2021 (https://www.antikapitalistische-linke.de/?p=4289). In einem Aufruf zu einer Protestkundgebung am 17.9. in Kiel unter der Parole „Mehrheit entlasten. Profiteure zur Kasse“, die maßgeblich von „Progressiven“ organisiert worden war, wird ein „Preisdeckel für Strom und Gas“ gefordert und dazu erläutert: „ein günstiges Grundkontingent, alles was darüber ist, wird teuer.“ (https://linke-kiel.de/termine/kundgebung-genug-ist-genug/)

 

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