Ein gelungener Affront

gegen das Wachtpersonal der deutschen Zustände

von Emil Neubauer 

 

Für die über-60-jährigen Deutschen ist die Nominierung von Frau Klarsfeld ein Affront. Die Kiesinger-Ohrfeige spaltete damals die postfaschistische Volksgemeinschaft aufs heftigste. Das progressive und regressive Menschenpack entäußerte sich zwischen aufjauchzender Erleichterung und empörtem Aufschrei und zwar keineswegs entlang der Klassenlinie. Alle wussten, dass die Ohrfeige alle traf, die scheinhellig ihr Unwissen betonten, um im nächsten Atemzug sowieso Alles-Besser zu wissen.

Ohrfeigen waren damals das gängige Mittel zur patriarchalen und klerikalen Erniedrigung der heranwachsenden Generation bis lockere 25 Jahre. Da sie behaupteter Weise noch nie jemand geschadet hatten, waren sie insbesondere als Überbleibsel körperlicher Züchtigungsmittel beliebt, nachdem die Rohrstockprügelorgien preußischer Lehrerschaft und Kleriker aller Couleur staatlich verboten worden waren.

 

Und Ohrfeigen und Gebrüll wie von waidwunden Ebern teutonischer Wälder waren die reflexartige Antwort auf behutsame Nachfrage, was denn die Väter und Mütter, die Verwandten und Lehrer wohl so an welchen Orten während der NS-Zeit getrieben hatten. Von nichts gewusst!? Ah, ja. Alles klar. Besser Ruhe geben. Gemäß den zu verinnerlichenden Schulliedern der deutschen Innerlichkeit. Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten. Halt’s Maul, sonst kommst du ins …brach es ab in alten Mündern aus müden, hasserfüllten Augen. Dich hätte ich gerne gesehen, war der gängige Übergang in die Offensive. Wir konnten nichts tun. Ja, ja.

 

Angesichts dieser halb-feudalen Zustände war Klarsfelds Tat ein Tabubruch erster Güte gegen die Herrschaft der alten Ordnung, ihrer alten NS-Mächte und zugleich gegen zehntausend Jahre Gerontokratie. Für die Nachgewachsenen ist die Dimension dieses symbolischen Aktes nicht mehr nachvollziehbar. Und auch nicht, dass Frau Klarsfeld sich tatsächlich in Lebensgefahr begab. Die damaligen Herren aller Couleur und aller Schichten und Berufe hatten in aller Regel schießen gelernt und auch geschossen. Es war die Zeit, in der die situationistische Praxis noch ideologische Erschütterungen auszulösen vermochte und nicht als Event die herrschenden Zustände bespaßte.

So, nun sitzen Haufen von sklerosierten Über-60-Jährigen als damalige Zeitzeugen des gelungenen Coups in jener ehrenwerten Versammlung des deutschen politischen Adels und wählen im Namen des ganzen deutschen Volkes einen misantropen Gauckler zum vorbestimmten Oberhaupt der neu-deutschen Volksgemeinschaft. Für alle Wessi-Abgeordneten war und ist Klarsfeld ein Stachel: Das regressive Menschenpack unter ihnen erinnert sich überhöht legendenbildend, hasserfüllt möglichst cool bleibend der „Nazi-Jägerin“. Das relativ progressive Menschenpack muss cool seine Scham verdecken ob der Schande seines eigenen Kurses der Versöhnung mit dem deutschen Väter&Großväter-Ordnungs- und Herrschaftswahn im Großen wie im Kleinen. Die geschichtsvergessenen, wulfblassen Flotten und Jungen, die Karrieristen winken eh ab. Die Über-60-Jährigen der politischen Bundesversammlung hören jedenfalls an diesem Wahltag das Echo der schallenden Ohrfeige in ihrem Innersten – davor schützt sie selbst ihr hart erarbeitetes Zocker-Gehabe nicht.

 

Vor ihnen steht ein zierliches Persönchen als seltenstes Exemplar von Geradlinigkeit einer konservativen Deutschen. Sie wurde vom Sog des Blickes in den deutschen Abgrund erfasst, hinein gerissen, ohne je wieder vom unbewältigbaren deutschen Schlamm loskommen zu können. Ihre Arbeit grub das Grauen, das Barbie und Brunner personifizierten, aus dem Untergrund der weiter bestehenden braunen Netzwerke. Die Zwickauer Bande oder Brevik verweisen auf die Kontinuität des „eiskalten Blicks“ (im Pannwitz-Gedicht von Primo Levi) der eliminatorischen und selektionistischen „arischen“ Methode des christlichen Abendlandes. So kommt die deutsche Politik nicht von ungefähr heuer wieder – zunächst nur – bei den Griechen an.

 

Das konservative Persönchen rührt bei den heutigen Altvorderen den ganzen alten, unter den Teppich gekehrten Dreck mit einem Eimer klaren Wassers zu glitschigem Brei als Einladung zum Ausrutschen. Denn der konservative Kandidat der Volksmitte-Parteien hat schon manche Schlammschlacht geschlagen. Seine offensichtliche Eitelkeit wird kein Fettnäpfchen auslassen können. Wird gar in der grünlackiert-staatstragenden taz als „reaktionärer Stinkstiefel“ gehandelt.

 

Vom evangelikal-mitmischenden Wülfchen nun zum Pastor der staatstragenden preußisch-lutherischen Amtskirche. Der vermag seinen Zeigefinger gekonnter als jedes deutsche Päbstlein mahnend zu erheben. Es wird spannend werden, gegen wen und was er in der Krise den Bannfluch erlässt. Der neue Herr zur Verteidigung der überholten Werteordnung wird diese mit Klauen und Zähnen verpfaffen.

 

Hie ne Pfarrerstochter am Regierungsruder, dort ein lutherischer Pfaffe als Staatsoberhaupt, dann ein adliger hugenottischer Diplomat als Minister der Verteidigung am Hindukusch, eine populistische evangelische Ministerin der Arbeitsfront von eingeheiratetem verbürgerlichten Adel. Die wertkonservative katholische Strömung der Union schäumt. Sie organisiert sich gegen den Linksruck der Union. Wartet nur, bis die Krise den katholischen Freiherrn als Erlöser auf den Schild hebt! Je mehr er bis dahin geguttenbergert hat, umso besser. Deutschland 2012 im politisch-klerikalen Kulturkampf zwischen Feudalismus und Postmoderne …

 

Bürgerkandidatus Gauck trug Folgendes vor dem sicherlich bildungsbürgerlichen Publikum der Robert-Bosch-Stiftung vor:

 

„Unübersehbar gibt es eine Tendenz der Entweltlichung des Holocausts. Das geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse entzogen ist. Offensichtlich suchen bestimmte Milieus postreligiöser Gesellschaften nach der Dimension der Absolutheit, nach dem Element des Erschauerns vor dem Unsagbaren. Da dem Nichtreligiösen das Summum Bonum – Gott – fehlt, tritt an dessen Stelle das absolute Böse, das den Betrachter erschauern lässt. Das ist paradoxerweise ein psychischer Gewinn, der zudem noch einen weiteren Vorteil hat: Wer das Koordinatensystem religiöser Sinngebung verloren hat und unter einer gewissen Orientierungslosigkeit der Moderne litt, der gewann mit der Orientierung auf den Holocaust so etwas wie einen negativen Tiefpunkt (…)

 

Würde der Holocaust aber in einer unheiligen Sakralität auf eine quasireligiöse Ebene entschwinden, wäre er vom Betrachter nur noch zu verdammen und zu verfluchen, nicht aber zu analysieren, zu erkennen und zu beschreiben. Wir würden nicht begreifen.“ (Siehe: http://www.taz.de/Kommentar-Gauck/!88277/)

 

Wo der scheinbar seelenlesende Gottesmann also um die wirklichen Nöte der Gottlosen und deren Zwang zu Pseudoreligionen a la Singularität der Shoa weiß, nun noch folgende quälend profane Grübelei:

 

Vom christlichen Möchtegern Großayatollah würde ich im Jahre 2012 gerne wissen, ob sein Christengott als einzigartiger Demiurg der ganzen kosmischen Scheiße auf jede der offensichtlich milliardenfachen Erden des Weltalls zu all jenen Milliarden intelligenten Gattungen denselben Jesus als Halbgott, durch seinen heiligen Geist geschwängert, herniederschickte oder ob es Milliarden unterschiedliche Jesuse und unbefleckte Gottesmütter zu verehren gibt. Hallelulala für jenen, der beispielsweise zu kristallinen Gattungen hernieden düste. Jedenfalls blutete er nicht wie der arme Lattenjupp aus seinen Wunden.

 

Historische Materialisten schlussfolgern in obiger Sache allerdings evolutionistisch, dass auch die intelligenten Gattungen anderer Sonnensysteme sich erst allmählich aus der dort herrschenden ersten Natur durch die gesellschaftliche Arbeit heraus zur Bewusstheit ihrer selbst als Planeten-Gesellschaft entwickelten und entwickeln. Einschließlich der mit der Reichtumserzeugung einhergehenden Wechsel der Produktions- und Eigentumsverhältnisse. Inbegriffen die Entwicklungsreihe religiösen Wahns als Ausdruck unbegriffener erster wie zweiter, gesellschaftlicher Natur.

 

„Alles quasi-religiöses Gefasel eines orientierungslosen Gottlosen“, schallt es von den von Gott Heimgesuchten und Erwählten her. Alles metaphysisches Gequatsche murmeln die kritischen Kritiker von irgendwo links. Vielleicht kann der Alleswisser Gauck mich aus meiner quasi-religiösen Seelennot befreien, ohne mich einfältig dreifaltig zu vergauckeln. – Er wird selbstverständlich 'nen Schmarrn tun.

 

Die Gottlosen haben eher zu befürchten, dass der Gottesmann nach seiner Wahl als Strafgericht in die neu-deutsche Geschichte eingehen könnte. Gesetzt den Fall, in Teutschland treten griechische Verhältnisse ein. Und parlamentarische Kanzlermehrheiten scheitern in Folge. Dann schlägt die Gruß-August-Haltung der fetten Jahre um in das Vorschlagrechts des Bundespräsidenten gerade in besonders mageren Jahren zu einer technokratischen Regierungsspitze a la Brüning. Oder wie ist das Kleingedruckte der deutschen Geschäftsordnung zu interpretieren?

 

Beide Kandidaten stehen für völlig gegensätzliche Lebensläufe. Dort ein staatstragender Vertreter der Gegenaufklärung als deutsche Form der Vergangenheitsbewältigung. Hier eine Vertreterin offener Aufarbeitung der ureigenen deutschen Geschichte bis auf den heutigen Tag. In Israel und Frankreich mit hohen Orden geschmückt. In Deutschland (bisher jedenfalls) faktisch als Nestbeschmutzerin geschnitten, wie all die Alten, die wirklich was zu erzählen hatten. Im Wahlritual und vor allem am Wahltag selbst wurde die stets drängende deutsche Schlussstrichmentalität durch die schlichte Anwesenheit des lebendigen Stachels Klarsfeld wenigstens temporär vor der Weltöffentlichkeit durchkreuzt. Eine kluge linke Ideologiekritik der deutschen Zustände hätte diesen kleinen Riss im Nebel-Vorhang neu-deutscher Großmachtsüchte zu erweitern. Doch zugleich ist davor zu warnen, dass die deutsche Staatsraison es insbesondere seit der Schröder-Fischer-Armani-Gang sehr gut versteht, herangetragene Kritiken zu vereinnahmen und für sich zu wenden.

 

Schön, wenn ein Beschluss der Partei DIE LINKE einmal zum Ergebnis hat, mehr Inhalt zu transportieren, als die schmale Kost der eigenen Suppenschüssel hergibt.

 

Der Artikel stammt aus dem Material zum Text-in-Arbeit mit dem vorläufigen Arbeitstitel:
Die unausweichlich 3. Wiederkehr des hässlichen Deutschen
Unterabschnitt: Die feudalen deutschen Sehnsüchte Anno Domini 2011/12

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