Die Linke in der Krise

von DD

 

Nachfolgender Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten auf einer Veranstaltung der AG Scheißzeit-Movement[1] und der Linksjugend ['solid] am 26. Januar 2012 in Kiel. Die Veranstaltung sollte, wie es in der Ankündigung hieß, „der Frage nachgehen, wie eine Kapitalismuskritik auszusehen hätte, die nicht nur mit schönen Worten dem Kapital im Allgemeinen den Kampf ansagt, sondern an der Entwicklung einer politischen Kraft arbeitet, die in der Heimat speziell des deutschen Kapitals diesem die Stirn zu bieten in der Lage ist.“

 

„Die Krise heißt Kapitalismus“ – Mit dieser Parole treten vielerorts radikale Linke der gängigen Deutung des weltweiten Krisengeschehens entgegen, die da lautet, dieses sei vor allem verursacht durch international agierende Finanzmärkte, die über alle Stränge geschlagen seien und von den nationalen Regierungen wieder an die Kandare genommen werden müssten, auf dass das reale Wirtschaftsleben der Nationen wieder gesunde.

 

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Die Finanzmärkte seien aber in Wahrheit, hält man dagegen, unabdingbarer Teil eines kapitalistischen Ganzen, das sein Fundament nun einmal in eben jenem nationalstaatlich organisierten Wirtschaftsleben besitze, in dem handfeste Arbeit die von den Finanzmarktkritikern so gerne beschworenen „realen Werte“ schaffe. Wer also „der Krise“ ein Ende setzen wollte, so die linksradikale Schlussfolgerung, der müsse, wie es im Aufruf von „Scheißzeit-Movement“ zur Demo am 12. November letzten Jahres in Kiel heißt, die „Überwindung der Gesamtscheiße zugunsten einer solidarischen Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung jenseits des Kapitalismus“ sich zum Ziel setzen.

 

Kapitalismus = Scheiße?

 

Bei Marx gibt es in der „Deutschen Ideologie“ eine hübsche Bemerkung über „die ganze alte Scheiße“[2], die jedoch anders als hier, sich nicht auf den Kapitalismus bezieht, sondern auf dessen Vorzeit. Deren „Scheiße“, gegründet auf Armut der produktiven Möglichkeiten wie der dementsprechenden Bedürfnisse, daher auf Streit um das Lebensnotwendige, begänne von vorne, schreibt Marx, wollte man für besagte „Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung“ nicht von den enorm gesteigerten menschlichen Produktivkräften ausgehen, die erst der Kapitalismus hervorgebracht hat.

 

Krise = Gipfel des Übels?

 

Marx hätte es auch fern gelegen, am Kapitalismus ausgerechnet seine Neigung zu Krisen zu bemängeln. Er zählte ihn zu den progressiven Epochen der gesellschaftlichen Entwicklung. Keineswegs aber sah er ihn als deren absoluten Endpunkt. Vielmehr diagnostizierte er, dass der Kapitalismus nur die letzte derjenigen Epochen sein werde, worin der Fortschritt menschlicher Emanzipation von den Naturzwängen für die Masse der Individuen sich in das gerade Gegenteil davon verkehren müsse; dass also der Kapitalismus die Voraussetzungen für die Emanzipation dieser Masse selbst hervorbringe.

 

Gleichzeitige Entwicklung von ungeheurem Reichtum und massenhaftem Elend kennzeichnet den normalen Gang kapitalistischer Entwicklung in allen ihren periodisch jeweils aufeinander folgenden Phasen. Also nicht allein in der Krise, sondern auch in der Prosperität – zumal diese die Krise vorbereitet. Der Ausschluss der Masse der Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums vom Genuss eben dieses Reichtums bezeichnet das allgemeine Entwicklungsgesetz kapitalistischer Gesellschaften.

 

In den kapitalistischen Krisen aber, die immer auch einen kleineren oder größeren Teil der Profiteure des kapitalistischen Geschäfts in den Abgrund reißt, offenbart sich die kapitalistische Form der Produktion als Entwicklungshemmnis nicht mehr allein für den ausgebeuteten Teil der Gesellschaft, sondern für diese insgesamt. Je nach dem Ausmaß der Krise erscheint in ihr – lokal, regional, kontinental, global – das Ende einer Epoche nicht mehr bloß als theoretischer Skandal, sondern als die ganze Gesellschaft erfassende praktische Erschütterung aller sie konstituierenden Verhältnisse. Das Ende einer Epoche wohlgemerkt, die menschlichen Fortschritt nur kennt als Vernichtung jedes Fortschritts für diejenigen, auf deren physischer, geistiger und psychischer Inanspruchnahme er ganz und gar beruht.

 

Um sich einen Begriff davon zu machen, womit man es bei dieser Erschütterung zu tun hat, scheint mir eine Reflexion darüber nötig, worum es sich eigentlich handeln kann, wenn wir von „dem Kapitalismus“ als etwas reden, das es zu überwinden, zu bezwingen gelte. Dazu ein kleiner Exkurs.

 

Exkurs zum Begriff des Gesamtkapitals

 

Ausgehend von der durch Marx begründeten Kritik der politischen Ökonomie – theoriegeschichtlich der erste umfassende und bislang letzte Versuch dieser Art, der Frage näherzurücken, was das eigentlich ist: Kapitalismus – wäre zunächst festzuhalten:

 

Alle Grundbegriffe dieser Kritik beziehen sich ohne weiteres immer nur auf ein sogenanntes Gesamtkapital.

 

Nehmen wir z.B. den sehr zentralen Begriff des Mehrwerts. Dieser Mehrwert, also die Differenz zwischen dem an die Beschäftigten gezahlten Lohn bzw. Gehalt einerseits und der durch diese Beschäftigten erarbeiteten Wertsumme andererseits – dieser Mehrwert fällt nach der von Marx im ersten Band des Kapitals entwickelten Theorie demselben Kapital (landläufig gesprochen: dem Unternehmen) zu, das sie bezahlt und beschäftigt.

 

Bei näherer Betrachtung erweist sich aber die Identifikation von Kapital (im Sinne einer direkten Aneignung von Mehrwert) und Unternehmen als Fiktion oder in der Marxschen Terminologie gesprochen als Abstraktion. Abstrahiert, d.h. abgesehen wird nämlich von der Vielzahl an Unternehmen, gegliedert in eine Reihe verschiedener Branchen, aus denen das so gefasste wirkliche Kapital besteht, das den unter seiner Regie produzierten Mehrwert unmittelbar sich aneignet. Diese Vielzahl muss man sich alle gewissermaßen als ein einziges Unternehmen zusammengefasst denken, sofern davon die Rede ist, dass Kapital Aneignung von Mehrwert bedeute. Marx bezeichnet dieses zusammengefasste Kapital wie gesagt als Gesamtkapital.

 

Jedes der Einzelkapitale, aus denen besagtes Gesamtkapital besteht, macht zwar seinen eigenen Profit. Keineswegs aber ist die Quelle dieses Profits einfach der unter dem Kommando dieses bestimmten Einzelkapitals, unter je nach Branche z.T. sehr verschiedenen Bedingungen, produzierte Mehrwert. Vielmehr nehmen die Einzelkapitale alle zusammen an einem hinter ihrem Rücken sich abspielenden Prozess teil, der dafür sorgt, dass sie sich die Summe des von ihnen allen produzierten Mehrwerts schließlich brüderlich teilen, nämlich gemäß der jeweiligen Größe ihres Einzelkapitals oder Unternehmens.

 

Die Gesetze der Akkumulation des Kapitals, also die Verwandlung des unter dem Kommando des Kapitals produzierten Mehrwerts in zusätzliches Kapital, das dem alten Kapital einverleibt wird und es dadurch wachsen lässt – diese von Marx im ersten Band des „Kapital“ entwickelten Gesetze beziehen sich immer auf ein solches Gesamtkapital, das näher betrachtet aus einer Vielzahl einzelner Kapitale besteht, die miteinander konkurrieren.

 

Gesamtkapital sorgt für Pool an Arbeitskräften

 

Ein besonders wichtiges Gesetz dieser kapitalistischen Akkumulation sorgt übrigens dafür, dass für alle Unternehmen immer ein ihren Bedürfnissen entsprechend genügend großes Reservoir an unbeschäftigten Arbeitskräften vorhanden ist, aus dem sie sich bedienen können. Wenn also einige Unternehmen etwa durch technische Innovation, aber auch durch Pleiten etc., Arbeitskräfte freisetzen, dann dienen sie, wie scharf auch immer sie im Rahmen des Gesamtkapitals mit allen anderen konkurrieren, dem Wohl der Gesamtheit aller Unternehmen.

 

Das Gesamtkapital: eine höchst praktische Größe

 

Das Gesamtkapital ist, wie man hieran sehen kann, keineswegs bloß eine theoretische Größe. Es existiert durchaus ganz praktisch.

 

Das Gesamtkapital ist zum einen der eigentliche Gegenspieler aller derjenigen, die davon leben müssen, dass sie ihre Arbeitskraft zum Verkauf anbieten. Erst gegenüber dem Gesamtkapital bilden die Lohnabhängigen wirklich eine Klasse von Menschen, die dasselbe soziale Schicksal teilen. Keineswegs dagegen schon als „Belegschaft“ etc.

 

Zum andern aber konstituiert das Gesamtkapital den modernen Nationalstaat, wie umgekehrt dieser dem jeweiligen Gesamtkapital seinen Lebensraum bereitet und sichert. Der vorhin angesprochene Prozess, der für den Ausgleich der Profitraten der nach verschiedenen Branchen gegliederten Einzelkapitale untereinander sorgt, spielt sich jeweils in eben diesem Rahmen eines kapitalistischen Nationalstaates ab. Der Vielzahl von Nationalstaaten entspricht also eine Vielzahl von Gesamtkapitalen, für die sich verschiedene, je spezifische Durchschnittsraten des Profits herausbilden.

 

Ebenfalls im Rahmen der nationalstaatlich abgegrenzten Gesamtkapitale bilden sich verschiedene darin gesellschaftlich herrschende Normalarbeitszeiten, Arbeitsintensitäten und -produktivitäten heraus, die sich als günstige oder weniger günstige Voraussetzungen für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt auswirken.

 

Soweit der Exkurs. Und nun zurück zur Frage, womit wir in der kapitalistischen Krise zu tun haben.

 

Krise = Krise des Kapitals

 

Meine These war: Merkmal der Krise ist insbesondere, dass sie nicht allein den unteren, ausgebeuteten Teil der Gesellschaft in Nöte bringt, sondern auch den ausbeutenden Teil; dass es daher jedenfalls aus Sicht des ausgebeuteten Teils der Gesellschaft in die Irre geht, ausgerechnet in den kapitalistischen Krisen den Kern oder Gipfelpunkt aller Übel des Kapitalismus zu vermuten.

 

Eine weitere Überlegung können wir daran jetzt noch anschließen: „Der Kapitalismus“ schlechthin, oder gar „das Kapital“ schlechthin lässt sich in solcher Unmittelbarkeit gar nicht dingfest machen. Weder vertreten einerseits die internationalen Finanzmärkte „das Kapital“ (vielmehr erweisen sie sich heute deutlicher denn je als eines der Terrains, auf denen die nationalen Gesamtkapitale sich ihre Konkurrenzschlachten liefern: Dieselben Finanzmärkte, auf denen Länder wie Griechenland und Italien gar nicht mehr oder nur gegen horrende Zinsen Kredit bekommen, werfen Ländern wie Deutschland oder Dänemark den Kredit hinterher). Noch hat man es andererseits im einzelnen Unternehmen, bei dem man vielleicht gerade Mehrwert schafft und das jetzt von der Pleite bedroht ist, mit „dem Kapital“ zu tun.

 

Und dennoch besitzt das Kapital eine konkrete, wenn auch sehr disparate Gestalt, die sich in der Krise in spezifischer Weise zeigt.

 

Anders als es linke bis linksradikale Verlautbarungen zur Krise oftmals nahe legen, schweißt die Krise keineswegs die bürgerlichen Klassen der kapitalistischen Länder zu gemeinsamen Maßnahmen gegen deren lohnabhängige Klassen zusammen, sondern verschärft ihren Konkurrenzkampf untereinander. Gemeinsamkeit kommt hier nur zustande als Unterwerfung des jeweils unterlegenen unter den überlegenen Part. Im Gefolge dieses Konkurrenzkampfes wachsen zugleich die Anstrengungen und Möglichkeiten der diversen kapitalistischen Interessengruppen, Teile der Lohnabhängigen darein zu verwickeln und so die Spaltung der Klasse zu zementieren – unter Einsatz keineswegs nur der Peitsche, sondern, je nach den vorhandenen Möglichkeiten, immer wieder einmal auch von reichlich Zuckerbrot.

 

Deutschland in der Krise

 

Letzteres gilt namentlich für Deutschland, dessen Kanzlerin bislang ihr Versprechen bestens halten konnte, man werde gestärkt aus der Krise hervorgehen. Neben der durch Schröders Agenda herbeigeführten günstigen Ausgangslage war eine der kaum zu unterschätzenden Bedingungen dafür das nach entsprechender Gesetzesänderung großzügig gezahlte Kurzarbeitsgeld. Mit konjunkturellem Kurzarbeitsgeld im Jahresdurchschnitt 2009 für über eine Million[3] unbeschäftigter Arbeitskräfte bewahrte man diese zum einen vor dem bösen Schicksal offizieller Arbeitslosigkeit und hielten viele deutsche Unternehmen sich zum andern eine stattliche Arbeitsarmee Gewehr bei Fuß, die umgehend wieder aktiviert werden konnte, als die weltweit angeworfenen Konjunkturprogramme Wirkung zu zeigen begannen. Ein veritables Kriegsbündnis von deutschem Kapital mit deutscher Lohnarbeit, das Deutschlands Arbeitsfront beträchtlich vorzurücken erlaubt hat.

 

Vor diesem Hintergrund mutet es eher hilf- und auch ein bisschen gedankenlos an, den Opponenten gegen die herrschenden Verhältnisse den Kapitalismus im Ganzen, sozusagen mit Sack und Pack, als erste gegnerische Adresse anzuempfehlen, oder schlimmer noch: das kapitalistische so genannte „System“.

 

Solcher sich selbst gerne als „weltweit“ apostrophierende Protest gegen das große Ganze erinnert mich von ferne an die großartigen internationalistischen Manifestationen der Sozialisten in und aus aller Herren Länder gegen den heraufziehenden ersten Weltkrieg. Als dann bei Ausbruch des Weltkrieges am 4. August 1914 sich alle diese Manifestationen als heiße Luft erwiesen, lag das keineswegs daran, dass sich die Sozialisten auf einmal von Gegnern zu Befürwortern des Krieges gewandelt hatten. Es lag vielmehr daran, dass sie es versäumt hatten, ihre Gegnerschaft gegen den bestimmten Krieg, der da heraufzog, konkret auszubuchstabieren. Es lag daran, dass sie sich nicht darauf vorbereitet hatten, zur selbständigen Partei in diesem Krieg zu werden, die den kriegführenden Herrschenden in ihrem jeweiligen Land mit aller praktischen Konsequenz entgegentritt. Es lag an ihrer Weigerung, notfalls in den Bürgerkrieg gegen die sie je spezifisch Beherrschenden zu ziehen.

 

Partei gegen das deutsche Kapital

 

Gegen den Kapitalismus antreten, hieße demnach im Deutschland von heute: auf dem Boden der gegebenen Verhältnisse, die nun einmal kapitalistische sind, an der Wiedergewinnung politischer Selbständigkeit der lohnabhängigen Klasse zu arbeiten – oder negativ und damit etwas bestimmter formuliert: an der Zersetzung der deutschen Arbeitsfront, die selbst in dieser Krise einmal mehr ihre ebenso erstaunliche wie deprimierende Haltbarkeit gezeigt hat.

 

Über den historischen Hintergrund solcher Stabilität von Zerspaltung und Kollaboration auf Seiten der lohnabhängigen Klasse gerade in Deutschland wäre einmal gesondert zu diskutieren. Fürs erste sei nur darauf verwiesen, dass früher einmal für Deutschland das gerade Gegenteil gegolten hat. Bis 1933 besaß Deutschland ein selbstbewusstes Proletariat, an dessen eigenständiger Handlungsmächtigkeit die Arbeiterbewegungen aller anderen entwickelten kapitalistischen Länder sich haben messen lassen. Umso verheerender die Wirkung seiner ebenso herausragend gründlichen Zertrümmerung durch den Nazifaschismus, an deren Folgen wir hierzulande denn auch bis heute laborieren.

 

Den Ehrgeiz, daran etwas zu ändern, sollte man allerdings lieber gleich begraben und sich irgendeiner schöneren Beschäftigung widmen, gäbe es nicht hier und jetzt zumindest zarte Anzeichen einer entsprechenden Änderung. Die Abkehr von Teilen des gewerkschaftlichen Funktionärskörpers im Zuge der gesetzlichen Umsetzung der Agenda 2010 und insbesondere der Hartz-Gesetze ab Jahresbeginn 2004 war ein erstes solches Anzeichen, das mit der Gründung der WASG und später der Partei Die Linke schließlich die bundesdeutsche Parteienlandschaft nachhaltig verändert hat. Es ist immerhin fast ein Jahrhundert her, nämlich seit der Gründung der USPD im April 1917, dass so etwas in Deutschland passiert ist: das Abrücken eines Teils der organisierten Arbeiterbewegung von der SPD nach links; nicht wegen irgendwelcher Kleinigkeiten, sondern aus Opposition gegen ein Kernstück des von der Sozialdemokratie umgesetzten politischen Programms der deutschen Bourgeoisie.[4]

 

Man muss das allerdings wahrzunehmen und zu würdigen wissen. Man darf nicht darauf hoffen, quasi aus dem Nichts sofort wieder auf massenhaft glasklares Klassenbewusstsein zu stoßen. Es wäre vielmehr ein unerklärliches Wunder, wenn die Abwendung von der Sozialdemokratie nicht ihrerseits noch deutlich sozialdemokratische Züge trüge; wenn die Loslösung nennenswerter Teile der Klasse von der Jahrzehnte anhaltenden sozialdemokratischen Politik, die sie an das Wohlwollen von Unternehmertum und Staat bindet, nicht ihrerseits die von dieser Politik geprägten Gewohnheiten in größerem oder geringerem Maße eine ganze Weile noch mit sich schleppte.

 

Und ein Weiteres wäre zu bedenken. Diese Loslösung findet ganz sicher dort am allerwenigsten statt, wo man, wie nicht zum ersten Mal etwa derzeit bei Occupy, jeglicher Form von politischer Parteibildung feierlich abschwört und einer „Politik in der ersten Person“ frönt, deren wichtigste Bedingung möglichst lockere, kleinteilig organisierte Zusammenhänge sind, weil anders Selbstbestimmung jedes Einzelnen angeblich nicht zu gewährleisten sei – will man doch gelernt haben, dass jegliche Organisation lohnabhängiger Massen, die auch nur annähernd jenen Umfang und jene Festigkeit erreicht, womit sie allein ihrem Gegenspieler, dem organisch verbundenen nationalen Gesamtkapital gewachsen wäre, alle Aussicht auf Emanzipation von den Ketten der Lohnabhängigkeit noch jedes Mal verkauft hat für den zweifelhaften Preis einiger Lockerungen der Ketten hier und da. Mit der prinzipiellen Absage an jegliche feste Großorganisation oder – Gottseibeiuns! – gar Partei, glaubt man aus dieser Not eine Tugend machen zu können, während man ihr in Wahrheit bloß das passende Ergänzungsstück beistellt. Und muss, wohl eher versehentlich als darum wissend, die Unwahrheit seines Geweses um die angeblich einzig echte Selbstbestimmung jedes Einzelnen einräumen. Diesen nämlich will man zugleich der denkbar rigorosesten Fremdbestimmung unterworfen sehen: der direktest möglichen Demokratie, in der bekanntlich – je direkter, desto gewisser – die Einzelne, wer auch immer sie sei, am Ende regelmäßig nichts, die geballte Masse aber alles zählt.

 

Zwischen Baum und Borke

 

Anders als es die den linken Stammtisch beherrschenden Gerüchte der autonom-anarchi­schen, also kleinbürgerlichen Demokratie besagen, herrscht auf Seiten der mehr oder weniger real existierenden Opposition gegen das System des deutschen Kapitals nach wie vor vielmehr ein fataler Mangel an der Bereitschaft, in allem Ernst Partei zu werden.

 

Da ist einerseits die weitläufig linksradikale Szene, mittlerweile jahrzehntelang sich fort und fort reproduzierend in der Beschaulichkeit ihrer zahllosen Zirkelchen, die bei Events à la Heiligendamm oder demnächst wieder im Frankfurter Bankenviertel gelegentliche Heerschau hält und auch immer wieder einmal „die Organisationsfrage“ stellt, aber in diesem Leben keine Antwort mehr darauf findet, die allen liebevoll in ihr konservierten Bedenken jemals gerecht werden könnte.

 

Und da ist andererseits – als das bedingende Gegenstück – die realexistierende Arbeiterbewegung, nach wie vor in erheblichem Maße sehr gut organisiert und insofern einzig nicht nur fähig dem wirklichen Kapital als jenem hoch organisierten, eine ganze Gesellschaft umgreifenden und sie durchdringenden Produktionsverhältnis Paroli zu bieten, sondern auch eine Macht, der wahrhaftig niemand widerstehen könnte. Es findet sich nur nirgends in ihr mehr der Gedanke daran, diese Macht endlich wieder parteilich, nämlich ausschließlich im Namen der wohlverstandenen eigenen Interessen zur Geltung zu bringen. Vielmehr findet selbst ihr fortgeschrittenster Teil, auf gut Französisch also: ihre Avantgarde „größten Gefallen an der Idee, mittels Reformen zum Wohle der Gemeinschaft von Ausbeutern und Ausgebeuteten Letzteren darin ein gutes Leben zu garantieren und so auf leisen Sohlen den ‚demokratischen Sozialismus‘ einzuführen.“[5] Nicht also Partei will man sein, obgleich man erst kürzlich eine solche ins Leben gerufen hat, nicht selbstbewusster, organisierter Ausdruck der Interessen ausschließlich eines bestimmten Teils der Gesellschaft (das nämlich wäre der Begriff des Wortes), sondern der bessere Anwalt des gesellschaftlichen Gesamt- oder Allgemeininteresses. Daher auch das völlige Einverständnis mit jener Parole, die man sich dort auf seine Fahne schreibt, wo man, dem reinen, klassenlosen Selbst sich hingebend, von vornherein über alles Parteiengezänk erhaben sein will: „Wir sind die 99 Prozent“.

 

Dazwischen klemmte, sollte es ihn irgend noch geben, der Kommunismus, seinem Begriff nach weiterhin nichts als die „wirkliche Bewegung“ (Marx/Engels) des seine Selbstaufhebung betreibenden Proletariats, wie zwischen Borke und Baum: Dort in vielerlei Gestalt die Bewegung eines „Selbst“, das sich jeglicher näheren sozialen Bestimmung verweigert und darüber unversehens dahin gelangt, das Ideal einer Diktatur der rohen, gestaltlosen Masse zu beschwören. Hier die Organisationen einer Klasse, die deren fatal bestimmtes Selbst ein ums andere Mal verleugnen, um es dem falschen höheren Ganzen zum Opfer zu bringen. Zwei unglückliche Momente aller Opposition gegen das Kapital hierzulande, die in ihrer beider Ohnmacht einander in exakt demselben Maße bedingen, wie sie ihr je eigentliches Potential am Ende regelmäßig verderben. Das Kunststück, das wir fertigzubringen hätten, bestünde wohl darin, beide jeweils mit dem je anderen als dem passgenauen Gegengift zu impfen.

 

Das Feld, es zu wagen, ist bereitet. Just jene Linke, die gerne alles mögliche wäre, nur nicht Partei, nur nicht organisierender Teil und organisierter Ausdruck der Klasse, buchstabiert sich jetzt gleichwohl in großen Lettern, versehen mit dem Titel „die Partei“. Wagen wir das Kunststück! Kämpfen wir in der Partei DIE LINKE für ein Programm und eine politische Praxis, die die politische Unabhängigkeit und Selbsttätigkeit der lohnabhängigen Klasse befördern! Und geben wir die Hoffnung nicht auf, dass von den radikaleren Linken, die bislang sich zu fein dafür sind, eine erkleckliche Zahl demnächst vielleicht doch noch den Arsch hochkriegt und diesem Kampf sich anschließt!



[1] Kieler Gruppe, die sich in der „Kritik an reaktionären Tendenzen in der Occupy-Bewegung“ in Kiel zusammengefunden hat. Der Name persifliert den eines wohl aus den USA stammenden und mittlerweile in etlichen Ländern beheimateten „Movements“, das sich auch im Englischen mit dem schön-schrecklich deutschen Wort „Zeitgeist“ schmückt und durch allerhand Obskurantismus und mehr oder weniger offenen Antisemitismus von sich reden macht. Dank der Interventionen von Scheißzeit hat die kleine Kieler Occupy-Szene schließlich „Zeitgeist“ aus ihren Reihen verbannt.

 

[2] „Diese ‚Entfremdung‘, um den Philosophen verständlich zu bleiben, kann natürlich nur unter zwei praktischen Voraussetzungen aufgehoben werden. Damit sie eine ‚unerträgliche‘ Macht werde, d.h. eine Macht, gegen die man revolutioniert, dazu gehört, daß sie die Masse der Menschheit als durchaus ‚Eigentumslos‘ erzeugt hat und zugleich im Widerspruch zu einer vorhandnen Welt des Reichtums und der Bildung, was beides eine große Steigerung der Produktivkraft, einen hohen Grad ihrer Entwicklung voraussetzt – und andrerseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte (womit zugleich schon die in weltgeschichtlichem, statt der in lokalem Dasein der Menschen vorhandne empirische Existenz gegeben ist) auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte, weil ferner nur mit dieser universellen Entwicklung der Produktivkräfte ein universeller Verkehr der Menschen gesetzt ist, daher einerseits das Phänomen der ‚Eigentumslosen‘ Masse in Allen Völkern gleichzeitig erzeugt (allgemeine Konkurrenz), jedes derselben von den Umwälzungen der andern abhängig macht, und endlich weltgeschichtliche, empirisch universelle Individuen an die Stelle der lokalen gesetzt hat.“ (MEW 3, S. 34f)

 

[3] IAB-Kurzbericht 3/2010, S. 3; vgl. hierzu auch im IAB-Kurzbericht 14/2009: „Verschnaufpause dank Kurzarbeit“.

 

[4] Dies ist denn auch der maßgebliche Unterschied sowohl zur Entstehung der Grünen Ende der 1970er und Anfang der 80er Jahre wie auch zum jetzigen Aufstieg der Piratenpartei. Mit den Grünen vollzog dereinst die damals so genannte „Außerparlamentarische Opposition“ eine Bewegung nach Rechts, weg von jeglicher Orientierung auf die Klasseninteressen des lohnabhängigen Teils der Gesellschaft, hin zu Fragen, die die deutsche Volksgemeinschaft über alle Klassengrenzen hinweg gemeinsam bewegten: der sterbende Wald und die Angst, dass Deutschland bei der Vorwärtsverteidigung des Westens gegen den kommunistischen Osten zum Schlachtfeld und Opfer amerikanischer Atombomben werden könnte. Und die Piraten von heute wollen zwar ausnahmslos alles irgendwie anders machen, aber kaum irgendetwas Bestimmtes. Die Frage aber, wie frei es denn zugehen darf im Internet, ist ganz sicher keine, womit man die geballte Kraft der deutschen Bourgeoisie gegen sich mobil machen kann.

 

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