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 übergänge Zirkular : Nr. 4 : Editorial 

Daniel Dockerill

„Revolutionstheoretischer Impetus“
oder Theorie der Revolution?

Die Übergänge laden ein zur Debatte
um ein neues kommunistisches Programm


C

lemens Nachtmann, einer der wenigen zeitgenössischen linken Autoren, der zumeist mit ebensoviel Gewinn wie Genuß zu lesen ist, hat in den jüngsten Bahamas eine Lanze gebrochen für das, was er „orthodoxen“ Marxismus nennt – einen reflektierten natürlich, den er auch als „sekundär“ qualifiziert. Gerichtet ist diese Übung gegen allerlei grassierenden „naiv antimetaphysischen Scheinradikalismus“, der, dem Geheiß der „dekonstruktivistischen Meisterdenker“ der Postmoderne folgend, „– wie Adorno einmal gleichsam vorausahnend schrieb – ‚tabula rasa macht, ohne inhaltlich etwas anzugreifen, und der mit jedem inhaltlich radikalen Gedanken fertig wird, indem er ihn als Mythologem, Ideologie, überholt denunziert.[1] Insbesondere ist es Nachtmann darum zu tun, den hier von ihm zitierten Adorno gegen seine in Mode gekommene Vereinnahmung durch den post (-modernen, -strukturalistischen, -marxisti­schen) linken Zeitgeist in Schutz zu nehmen.

 

Nachtmanns Rede von „Adornos Orthodoxie“ ist vor allem eine feine Provokation. Die Bezeichnung Adornos als „orthodoxen Marxisten“ ist sicher geeignet, allerhand auf „Kritik“ erpichte Leute zu erschrecken, denen die reine Marxsche Lehre schon immer ein Graus gewesen ist und die sich gegen „Ursprungsdenken“, „Überdeterminierungen“ und dergleichen kritische Geschmacklosigkeiten, denen sie darin zu begegnen fürchten, bei Adorno zumindest etwas moralischen Beistand zu erhoffen pflegen. Was Nachtmann gegen derlei adornitisch angehübschte gesellschaftskritische Reformhauskost in Anschlag bringt, wurde im Wesentlichen beispielsweise schon vor ca. 20 Jahren von Wolfgang Pohrt in seiner Theorie des Gebrauchswert ausführlich dargelegt, daß nämlich der kritische Begriff (d.h. überhaupt ein Begriff) vom Kapital nicht zu haben, wo an ihm selbst kein Moment seiner revolutionären Überwindung mehr dingfest zu machen ist. Anders gesprochen: krititische Theorie des Kapitalismus ohne Theorie der sozialistischen Revolution als ihr wesentlicher Bestandteil geht nicht; das Kapital kann nur als umzuwälzendes und umwälzbares Verhältnis begriffen werden oder gar nicht. (Bei Pohrt liegt indes der Akzent auf der Umkehrung dieses Gedankens, daß, wo sich das Mißlingen oder Versäumnis dieser Umwälzung manifestiert, die Kritik der politischen Ökonomie auch keine Grundlage revolutionärer Theorie mehr darbietet.)

 

Freilich ist Nachtmanns eigene „Orthodoxie“ in erster Linie der Interpretation Adornos verpflichtet, mit Karl Marx hat eine Beschreibung des „Kapitalverhältnis als objektives Verhängnis“[2], wie Nachtmann sie ihm unterstellt, schon weniger zu tun. Was die Authentizität der Marx-Interpretation angeht, genügt es, deren derzeit vielleicht zuverlässigsten Prüfstein zu befragen: Wie hältst du’s mit der Wertkritik?

 

Nachtmann hat darüber in einem Streitgespräch mit Ernst Lohoff gelegentlich eines von der Krisis veranstalteten Seminars sozusagen abschließend Auskunft gegeben:[3] Bei aller größtenteils sehr treffenden Kritik der „Geschichtsmetaphysik“ dieses Vereins weiß er sich doch in dessen Seminarrunde „in einem Kreis von annähernd Gleichgesinnten“, deren „grundlegende Gemeinsamkeit“ für ihn so wenig in Frage steht, daß er sich leisten kann, die „Meriten“, die sich die Krisis darum „erworben“ habe, gar nicht erst näher zu untersuchen, sondern als solche kurzerhand abzuheften. Mit ihrer „Demontierung des soziologistischen Klassenbegriffs“ etwa hat die Krisis auch dem orthodox kritischen Theoretiker aus der Seele gesprochen, und dessen Kritik entspringt allein der – allerdings völlig berechtigten – Sorge, daß die Krisis unter dem Etikett ihrer sogenannten „Aufhebungsbewegung“ das komplette traditionelle Zubehör des gerade wertkritisch demontierten Subjekts revolutionärer Bestrebungen in einer Art Nürnberger Version für feministische Fans von Rohkost aus dem Cyberspace fröhlich wiederauferstehen lassen möchte.

 

Indes bedenkt der kritische Gesinnungsgenosse des wertkritischen Spektakels der fundamentalistischen Art nicht den eigentlich auf der Hand liegenden Umstand, daß jenen „revolutionstheoretischen Impetus“, auf den kritische Theorie nach seiner Einsicht nicht verzichten kann, in der ihm angemessen strengen und reinen Gedankenform festzuhalten, ohne daß er einem unter der Hand sogleich wieder in nichts zerstäubt, immer nur einer Handvoll erlesenster Geister vergönnt sein kann. Für das gemeine Fußvolk der Kritik ist dieser in seiner orthodox kritischen Form unerreichbar, und auch das will doch kritisch ernährt sein.

 

Tatsächlich beschränken sich denn auch die „zweifelhaften Verdienste“ (Nachtmann) der Krisis am Ende darauf, unter dem Namen der „Wertkritik“ jenen „Gang des Verhängnisses“[4] popularisiert zu haben, der das A und O aller philosophisch geschulten Reflexion der Kritischen Theorie ausmacht. Die „Blauäugigkeit“[5], mit der die Propagandisten der Krisis annehmen, allein die Allgemeinheit und Unentrinnbarkeit der Katastrophe bilde jenen Stachel, der die Menschheit zur Revolution treibe, ist die notwendige Bedingung, daß Wertkritik sich zu einem Diskurs aufschwingen kann, der über die elitären Zirkel des kritischen Gedankens hinausreicht. Was aber wäre gegen Popularisierung an sich einzuwenden? Von der Verantwortung für Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit ihres Resultats kann das, was sich darin populär macht, nicht freigesprochen werden. Oder anders herum: Eine theoretische Kritik, die der Darstellung ihres Gegenstands derart willkürlich an die Seite tritt: daß sie „noch konsequenter als bei Marx sich aller revolutionären Hoffnungen entschlagen und das gesellschaftliche Verhängnis zum Zwecke der Kritik noch weit schonungsloser darstellen“[6] muß – welches andere Schicksal als das ihrer schonungslosen Popularisierung hätte die denn überhaupt verdient?

 

Übrigens verhält es sich zum Teil auch umgekehrt. Die Wertkritik, welches Schlagwort sich Nachtmann in seiner Diskussion mit der Krisis ganz arglos zu eigen macht, wurde von dieser – noch unter dem Namen Marxistische Kritik – sehr viel weiter in die Einzelheiten getrieben, als es Adorno und Enkel je riskierten, und wer über Stärken und Schwächen dieser Disziplin nähere Auskunft sucht, wird sich eher an das Nürnberger (soweit) Original halten müssen als an das, was davon in den Bahamas und anderswo aufgegossen wird. Was Nachtmann und Co. über die „Warengesellschaft“ etc. von sich geben, ist nur geeignet jene Einsichten in die innere Verfaßtheit von Wertkritik zu bestätigen, die bereits die Kritik der Krisis geliefert hat. Wenn in den Bahamas das Proletariat bezeichnet wird als „eine mehrwertschaffende Ware“[7], dann kann man sicher sein, daß vom Begriff des Mehrwerts in solcher Bestimmung so wenig eine Spur überlebt hat, wie bei entsprechenden Darlegungen der Krisis, die aber immerhin noch versucht hat zu begründen, warum sie die Kategorie des Mehrwerts nicht mehr so interessant findet.

 

„In kapitalistischen Gesellschaften jedoch“, schrieben Clemens Nachtmann und Elfi Müller in den Bahamas Nr. 18, „bestimmt die Warengesellschaft allein die Weise, in der Menschen sich auf die gegenständliche Welt, auf andere Menschen und auf sich selbst beziehen können. Die Ware wird zur Universalkategorie. Die Menschen sind gezwungen, ihre Tätigkeit zur Ware zu machen; ...“[8] In der Welt der ökonomischen Kategorien „jedoch“ trennen sehr oft scheinbare Kleinigkeiten, Feinheiten der Formulierung, die leicht als Spitzfindigkeiten empfunden werden, die Kritik von der Affirmation. Ob zur Ware die Menschen „ihre Tätigkeit“ machen müssen oder ihre Arbeitskraft, d.h. die bloße Fähigkeit zu solcher (zweckmäßigen) Tätigkeit, das scheint eine nur belanglose Differenz zu bezeichnen. Und doch steckt darin der ganze Unterschied zwischen dem Begriff des Austauschs von Kapital und Arbeit und dessen begriffloser, bloß apologetischer Darstellung.

 

Das Unglück, die Kategorien der einfachen Zirkulation der Waren (unter dem schwammigen Terminus der „Warengesellschaft“, deren „Kritik“ die Krisis im Untertitel seit einiger Zeit zum Programm erhoben hat) unmittelbar mit denen des Kapitals zu identifizieren, hat uns die Krisis in sozusagen epischer Breite vorgeführt. Es liegt u.a. ihrer heldenhaften Attacke auf den „Klassenkampffetisch“ – jener von Nachtmann (s.o.) so gelobten „Demontierung“ – zugrunde und ist dahingehend in diesem Zirkular schon hinreichend kritisiert worden. Adornos Enkel auf den Bahamas fügen dem Drama keinen wirklich neuen Aspekt hinzu, sondern weisen sich hier nur als vollkommen berechtigt aus, an dem von der Krisis gestifteten Ehrentitel des Wertkritikers teilzuhaben.

 

Wertkritik – das ist das Unvermögen, die Kritik der Ware an ihr selber durchzuführen, nämlich zu begreifen, wie die Formen der Warenzirkulation (das Geld), die Formen des Austauschs der menschlichen Tätigkeiten als Waren, des Austauschs auf der Grundlage gleicher Arbeitsmengen, allein zur Herrschaft kommen: indem diese ihre Grundlage verschwindet und sie in diesem Sinne „unwahr“ werden im selben Moment, da sie universale Geltung erlangen. Ihre „Tätigkeiten zur Ware“ machen heute allenfalls noch der kleine Bäcker, der seine Brötchen auf eigene Rechnung selber backt und verkauft, oder der Friseur, der seinen Kunden persönlich die Haare schneidet.[9] Daß der Arbeiter, dem es gerade an jedem Mittel produktiver Betätigung fehlt, dem Monopolisten dieser Mittel, dem Kapitalisten, seine „Tätigkeit“ verkaufe, ist dagegen pure Ideologie, also das von den Verhältnissen verallgemeinerter Warenproduktion notwendig produzierte Blendwerk, dem, wie wir hier sehen, auch unsere ach so reflektierten Wertkritiker umstandslos erliegen. Wenn es denn eines Anhaltspunkts bedarf – dies wäre einer: dafür, daß hinter der Beschwörung einer Hermetik der Warenform, der Rede Kritischer Theorie vom „Verhängnis“, von der „Negativität des Ganzen“ letztlich doch wieder nur das Ressentiment des Bürgers steht, der das Dasein seiner Negation, das Dasein des Proletariats und damit die Drohung resp. Tatsache seiner eigenen Proletarisierung nicht wahrhaben will.

 

A

llein zu solcher Demonstration ein paar einschläge Äußerungen der Bahamas heranzuziehen, hätte sich allerdings kaum gelohnt. Sie wird deren Argumentation auch höchstens zur Hälfte, d.h. gar nicht gerecht. In einem zentralen Punkt nämlich behalten bis auf weiteres die linksradikalen Adepten Kritischer Theorie recht gegen alle diejenigen (z.B. auch uns Übergänger), die an der Marxschen Idee festhalten, die bestehenden Verhältnisse allein aus ihrer immanenten Notwendigkeit und Möglichkeit heraus umzuwälzen. Ich meine den Verweis auf „die Massenvernichtung der europäischen Juden als ‚das kollektive und klassenübergreifende Geschichtsverbrechen ...‘“, das, wie Nachtmann in einer Fußnote schreibt, die Marxsche Theorie „politisch erledigt“ habe und jeglichen Rekurs auf sie, „der sich darum herumstiehlt“, als „nicht nur naiv, sondern vorab Müll“ qualifiziere.[10]

 

Bis auf weiteres: Denn an sich läßt sich sehr wohl die immanente Unwahrheit des auf Auschwitz weisenden Arguments zeigen. Wenn der von Nachtmann zitierte Joachim Bruhn folgert, daß die Shoah „den ‚Grundwiderspruch von Kapital und Arbeit‘ definitiv zum systemimmanenten Motor der Akkumulation transformiert“, dann kann er ein dabei („definitiv“!) in ihm aufkommendes Gefühl der Genugtuung offensichtlich kaum noch unter seiner kritischen Decke halten. Mit jener „Transformation“ des „Grundwiderspruchs“ wäre Marx keineswegs nur „politisch“, sondern überhaupt erledigt. Ganz abgesehen davon, daß schon platt empirisch die Karriere des krimminellen Irrsinns der Nazis sich allem möglichen verdankte, aber gewiß nicht einer fröhlich voranschreitenden Akkumulation, und dergleichen auch nicht zu installieren vermochte, vielmehr das Naziregime, wenn es nicht in seiner eigenen Logik sowieso gelegen hätte, durch die nach relativ kurzer Blüte erneut eingesetzte Stockung der Akkumulation in den Weltkrieg getrieben worden wäre; abgesehen auch davon, daß Bruhns Entschärfung des Marxschen Begriffs der Lohnarbeit als der daseienden, praktischen Negation des Kapitals zu dessen „systemimmanten Motor“, nicht nur die primitivste Apologetik des Kapitalverhältnisses „kritisch“ reproduziert, sondern „definitiv“ auch die Marxsche Formkritik der Ware über den Haufen schmeißt; von solchen, wie ich zugeben muß, philosophisch unzulänglichen, profan ökonomischen Einwänden einmal abgesehen, ist vor allem nicht einzusehen, wie irgend Theorie (kritisch oder nicht) noch dabei helfen könnte, der „definitiv“ etablierten Volksgemeinschaft, dem „Rudel und Verfolgerkollektiv“ entgegenzutreten, als welches, so Nachtmann, das „kapitalentsprungene“ und nun „überflüssig“ gewordene „Individuum ... sich neu“ konstituiert habe.[11]

 

Es liegt zweifellos in der Logik dieser Argumentation, daß sie, soweit sie unverdrossen dennoch Theorie, nämlich Kategorien der politischen Ökonomie, bemüht, einmal mehr bei der Unterscheidung zwischen irgendeinem irgendwie auch guten und dem ganz und gar nur noch bösen Kapital ihre Zuflucht findet. Da entdecken dann Kritiker des „linken Antisemitismus“, als hätten sie hier noch nie was läuten hören, in der „Aktiengesellschaft“ eine „versachlicht-ano­nyme Form“, die „Mündigkeit, Einzigartigkeit“, Selbstherrlichkeit, d.h. die Attribute des individuellen Kapitalisten selig, kassiert und so ihrer Scheinhaftigkeit überführt habe, und erheben diese vor jener in den Rang von „Momente(n)“ – wie „scheinhaft“ auch immer –, „auf deren Rettung keine emanzipatorische Bewegung“ (ja, wo läuft denn die auf einmal wieder?) „verzichten kann.“[12] Welch seltener Bekennermut! In der Reminiszenz einer virtuellen Realität bürgerlicher Freiheitsideale findet die „Kritik“ ihr letztes Refugium vor der Häßlichkeit unserer so gründlich proletarisierten Welt. Nur allzu begreiflich und auch irgendwie beruhigend, daß sie ihr eigenes etwaige „Positiv“-Werden zum um jeden Preis zu verhindernden GAU erklärt, denn die positive Verwirklichung der bürgerlichen Freiheit ist heute eben die fabrikmäßige, lückenlos organisierte Barbarei des Herrenmenschentums.

 

D

ie hier zum Vorschein gekommene innere Unwahrheit der Rede vom Bann, den Auschwitz über jegliche Revolutionstheorie verhängt habe, ändert aber leider nichts daran, daß sie für uns dennoch wahr ist; nicht – oder nicht so sehr – in dem vordergründigen Sinne, daß es eine revolutionäre Bewegung, die sie widerlegte, „nicht gibt“ und dergleichen auch nicht in Sicht scheint, sondern weil wir von dieser uns selbst als Revolutionäre ohne revolutionären Boden eigenartig konstituierenden, historisch bestimmten Konstellation keinen Begriff haben und auch weit davon entfernt zu sein scheinen, einen solchen zu erlangen. Wenn auch von den Bahamas und anderswoher wir mit dem Hinweis auf diesen Umstand sogleich vor jedem Versuch gewarnt werden, denselben zu ändern, man dort also, statt auf Kritik, auf Affirmation zielt, so können wir uns doch nicht leisten, darüber zur Tagesordnung überzugehen, und im unmittelbaren Rückgriff auf die originär Marxsche Orthodoxie uns unverdrossen an die Erneuerung revolutionärer Theorie auf der Höhe unserer Zeit machen – vorausgesetzt, wir haben anderes vor als ein harmloses theoretisches Spiel mit der Revolution zum eigenen, mehr oder weniger „ausgebufften Seelentrost“ (Nachtmann).

 

Anders freilich, als die Vertreter kritisch theoretischer Orthodoxie begründen (zu begründen glauben), scheint es mir nicht ein abstraktes „Versäumnis“ der Revolution zu sein, was das Anknüpfen an Marx heute zu jener prekären Angelegenheit macht, die es zweifellos seit geraumer Zeit darstellt, sondern ganz im Gegenteil ein mittlerweile gründlicher Mangel an Unschuld dieses von der Kritik beschworenen jüngsten Gerichts. Die kommunistische Revolution hat den Abstieg aus den luftigen Höhen der Idee zur grausam praktischen Wirklichkeit längst nicht mehr nur vor, sondern mehrfach auch bereits hinter sich. Spätestens seit dem Oktoberumsturz in Rußland wurde es daher das Geschäft einer speziellen Apologetik der bürgerlichen Herrschaft, die Wirklichkeit der Revolution im Namen ihrer Idee zu kritisieren. Daß das Umwerfen aller „Verhältnisse ... , in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, daß die Befreiung der Geknechteten und Erniedrigten nicht unmittelbar die freie Assoziation der Individuen herstellt, sondern zunächst auch Verächtlichkeit, niedrigste, knechtischste Haltungen, Sklavengewohnheiten und -denkweisen massenhaft freisetzt und sogar mit Macht ausstattet; daß schon die bloße Selbstbehauptung, die Notwendigkeit der Unterdrückung der Konterrevolution, der Revolution jegliche Schwäche und also verbietet, als die reine Großherzigkeit daherzukommen, ihr selbst vielmehr das Signum unmenschlicher Grausamkeit unweigerlich einbrennt – das waren schon immer gute Gründe, zu jeglicher Revolution auf kritische Distanz zu gehen. Sie wurden durch die Oktoberrevolution um so mehr bestätigt, je unzweifelhafter diese isoliert blieb – oder richtiger: in einer halben, zwischen Unentschlossenheit und abenteuerlichem Spielen mit dem Aufstand schließlich erstickten Revolution in Deutschland ihre ungenügende Ergänzung fand.

 

Aber es trifft wohl zu: Mit der zwischen den Weltkriegen in Deutschland verspielten Revolution – gerade, wenn man nicht die wertkritische Entsorgung des Klassenantagonismus aus dem Begriff des Kapitals mitmacht, muß man das so sehen – hatte zumindest die europäische Arbeiterbewegung überhaupt ihre revolutionäre Rolle, ehe diese recht begonnen hatte, so restlos ausgespielt, daß der deutsche Nazismus sie umfassend beerben konnte. Für die Kommunistische Internationale wurde die ohne nennenswerte Gegenwehr erfolgte Liquidierung ihrer deutschen Sektion (der größten und wichtigsten außerhalb der Sowjetunion) durch die Nazis zum Anlaß, endgültig die parlamentarische Politik der revolutionären Phrase durch offenes Paktierertum mit der demokratischen Bourgeoisie zu ersetzen. Und obwohl der konterrevolutionäre Charakter dieser Wende sogleich in Spanien besichtigt werden konnte, wo 1937 die Kommunisten Arm in Arm mit den bürgerlich-republikanischen Militärs die Revolution niederschlugen und den Krieg gegen Franco zugrunde richteten, gab es keine größere Spaltung, wie sie noch zwanzig Jahre zuvor die Kursnahme der Parteien der Zweiten Internationale auf die Verteidigung ihrer bürgerlichen Vaterländer nach sich gezogen hatte.

 

E

s tut sich da ein kompliziertes Dilemma auf (das in den vorliegenden Nummern drei und vier der Übergänge ausgiebig begutachtet werden kann). Schließt man aus diesem (vorläufig) fatalen Ausgang der Sache der Revolution, daß die Bedingungen für eine Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse seinerzeit „noch nicht“ herangereift waren, zu dem Zweck, die Gegenwart bzw. Zukunft für eine solche Reifung theoretisch offenzuhalten, dann erklärt man nebenher die perfektionierte Katastrophe des Nazismus samt Weltkrieg und Shoa zum Moment eben dieser Reifung; und zwar einem Moment, das entweder sowieso nicht umgehbar gewesen oder – noch heikler vielleicht – durch die Hybris eines Versuchs provoziert worden sei, den Kommunismus vor der Zeit, durch gewaltsames Stillstellen einer noch allzu lebendigen Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise, zu erzwingen. Auf letzteres scheinen mir vor allem die in mancher Hinsicht an alte Argumentationsfiguren der fundamentalen Wertkritik anknüpfenden Überlegungen Robert Schlossers zu den „Voraussetzungen des Kommunismus“ – sie sind selbst etwas älteren Datums – hinauszugehen, die hier im Anschluß präsentiert werden. Mir sind sie insbesondere deshalb fragwürdig, weil in ihnen meines Erachtens Geschichte allzu unmittelbar zugerichtet wird auf gegenwärtige Fragestellungen und Zwecksetzungen. Das wird zu diskutieren sein.

 

Geschichte ist zwar immer auch Vorgeschichte, das Werden dessen, was ist, und verändert sich mit diesem. Aber ginge sie darin restlos auf, bliebe sie nicht zugleich besonderer Gegenstand, der seinen eigenen Gesetzen gehorcht und an sich selber erforscht sein will, dann verlöre sie genau genommen auch jede bestimmte Beziehung auf die Gegenwart wie anderseits diese ihren bestimmten geschichtlichen Charakter. Wir hätten die freie Auswahl zwischen dem reinen Determinismus, dessen eintönige Litanei lautet: es ist alles gekommen, wie es kommen mußte, oder der blanken Willkür, die Geschichte so interpretiert, wie’s das eigene (propagandistisch oder sonstwie voreingestellte) Interesse gerade braucht. Eines ist so belanglos wie das Andere.

 

Wer angetreten ist, die Notwendigkeit und Möglichkeit des Übergehens zum Kommunismus für eine absehbare Zukunft – zunächst wenigstens theoretisch – neu zu begründen; wider allen Zeitgeist, der wohl versteht, „daß die Verhältnisse überreif zur Umwälzung sind“, sie aber, – keineswegs unbegründet – für „gleichzeitig immun dagegen“[13] hält; der hätte im Grunde schon verloren in dem Augenblick, da ausgerechnet er seine eigene unbequeme Lage zum Produkt historischer Zwangsläufigkeit erklärt, also das Moment von Freiheit, das sich herauszunehmen er sich anschickt, aus seinen geschichtlichen Voraussetzungen verbannt. Nicht besser macht er seine Sache, wenn er das Verhängnis, in das die Freiheit schließlich umschlug, der Willkür, Uneinsichtigkeit, Unaufgeklärtheit oder dem Unverstand – kurz der Unzulänglichkeit des Subjekts jener Freiheit („zeitbedingt unschuldig“, wie Zwi Schritkopcher, wohl vor allem sich selber entschuldigend, vorsichtshalber hinzufügt)[14] aufs Konto schreibt: Nichts als die Schlauheit des Bürgers, der vom Rathaus kommt, versetzte ihn in den Stand, solches Urteil zu sprechen, und nichts garantierte ihm und seinen wohlweislich skeptischen Mitmenschen, daß über seine Sache später nicht dasselbe Urteil fällig würde.

 

Wir werden unsere Geschichte, die Vorgeschichte unserer künftigen Revolution, wieder studieren müssen. Der im voraus Bescheid wissende Blick auf sie „vom Resultat her gesehen“[15] gerät leicht zum Zerrbild; und hält uns in sie verstrickt, statt, wie er zu versprechen scheint, uns von ihrer Last freizumachen. Dem „Lenin“ Zwi Schritkopchers etwa mit seiner „Lehre vom Proletariat als blindem Objekt“[16] hat bereits Rosa Luxemburg in ganz ähnlicher Weise die Leviten gelesen. Und wer ihre Polemik aus dem Jahre 1904 nachliest und mit deren Gegenstand konfrontiert,[17] der wird – vorausgesetzt, er kann den starren Blick „vom Resultat her“ lösen – wahrscheinlich schnell erkennen, wie hohl das Pathos klingt, mit dem Rosa L. gegen Lenin an die Selbsttätigkeit des Proletariats appelliert, wie gründlich ihre Vorwürfe gegen Lenins Bolschewismus ins Leere gehen, der nichts anderes als die Selbsttätigkeit der revolutionären Klasse im Auge hat, aber eben nicht als Subjekt sich dieser als dem Objekt seiner Beobachtung und antiautoritären Pädagogik gegenüber setzt, sondern sich selbst als integrierendes Moment derselben Selbsttätigkeit begreift. – – Und dann auch noch „Was tun?“! Die Schrift, die in dieser Leninschen, seltenen Gründlichkeit gegen diejenigen, überwiegend – es ist leider ein simples Faktum – der Intelligenzia entstammenden russischen Sozialdemokraten ankämpft, geduldig deren sämtliche Argumente zerlegend, deren ganzes Programm darauf zielt, die Selbsttätigkeit des russischen Proletariats aufs engste, auf den rein gewerkschaftlichen Kampf zu beschränken; die den sozialdemokratischen Arbeitern raten, in den Fragen der „großen Politik“, im Kampf um politische Freiheit sich der Obhut der zahnlosen liberalen Bourgeoisie anzuvertrauen! Es verhält sich tatsächlich exakt andersherum, als es das stereotype Ressentiment des (gegen seine einstmals „Heiligen Schriften“) gewendeten Linksradikalismus heute gerne kolportiert: Nicht Lenin stritt (auch nicht „zeitbedingt unschuldig“) für die Unterwerfung des Proletariats unter die erzieherische Fürsorge von Leuten, die glauben, den Gang der Geschichte zu kennen, sondern seine Gegner, und aus eben diesem Grund wurde er zu ihrem.

 

Während den revolutionären Sozialdemokraten im Westen die neu sich herausbildenden Kampf- und Organisationsformen des Proletariats (Massenstreiks und Räte) hauptsächlich ein Objekt des freudigen Erstaunens, der Bewunderung und begeisterten Anfeuerung wurden – sie waren halt selbst fest eingebunden in den weitverzweigten, gut funktionierenden, längst mächtig gewordenen Partei- und Gewerkschaftsapparat und darin zu Hause –, befand sich die russische Sozialdemokratie von vornherein mitten in ihnen, nahm unmittelbar daran Teil und bildete ihr organisierendes Element. Man findet daher bei Lenin nichts von jenem pathetischen Gestus, der uns etwa aus den Reden und Schriften Rosa Luxemburgs oder Karl Liebknechts heute – glücklicherweise – ein wenig fremd anweht; statt dessen eine provozierende Sachlichkeit, der das Lernen im Kampf keine schöne Phrase, sondern schlichter, nicht selten auch an den Nerven zerrender Alltag ist.

 

Selbsttätigkeit, Selbstverwaltung, Selbstbefreiung, Selbstaufhebung des Proletariats? – Jawohl! Alle überkommenen Institutionen, Kampf- und Organisationsformen, alle Parteien neuen oder alten Typs müssen über den Haufen geworfen, gesprengt werden (wozu es freilich nichts schadet, sich gut in ihnen auszukennen). Der Kommunismus wird neu, auch gegen sich selbst (wie gegen Wertkritik, Ökologie und Feminismus) revolutionär, oder gar nicht mehr sein. Aber wie neu, wie revolutionär kann wohl ein westlicher „Communismus“ noch werden, der es nötig hat, ausgerechnet gegen den Bolschewismus uralte Gerüchte ein xtes Mal auf die Reise zu schicken? Gegen den Bolschewismus, mit dessen Namen und Praxis die bislang am weitesten getriebene, in ihrer Höhe noch nicht wieder erreichte Form wirklicher proletarischer Selbsttätigkeit verbunden ist; in ihrem Sieg und mehr noch in ihrem lange und grausam sich hinziehenden Niedergang bis heute weltgeschichtlich nachwirkend und mit einer Fülle praktischer revolutionärer Erfahrung, die sich messen kann mit dem, was die große französische Revolution zusammengetragen hat, nach wie vor alle auf den Kommunismus gerichteten Gedanken im Guten wie im Bösen in ihren Bann schlagend ... ?

 

 

Hier muß ich aus Zeit- und Platzmangel leider abbrechen. Die Herausgeber der Übergänge wollen die Diskussion über den öst-westli­chen Kommunismus, die Geschichte seiner (subjektiven wie objektiven) Reife oder Unreife in diesem seinem nun in den letzten Zügen liegenden Jahrhundert in erweitertem Kreis fortsetzen. Wir hegen die Hoffnung, daß diese Debatte nicht nur der Kritik alles Bestehenden einen trotzig-philosophischen „Impetus“, sondern dem Programm des praktischen Umsturzes der Verhältnisse positive theoretische Grundlagen liefern kann.

Das Material, das wir mit den Übergängen Nummer drei und vier vorlegen steckt weder seinem Umfang, noch seinen thematischen Schwerpunkten nach einen feststehenden Rahmen ab, sondern soll nach Bedarf auch neu hinzustoßender Teilnehmer(innen) durch ergänzende oder völlig anders orientierte Beiträge in Readern und weiteren Ausgaben der Übergänge vervollständigt werden. <>



[1] Clemens Nachtmann: Adornos Orthodoxie. Das Fortbestehen der Revolutionstheorie nach ihrem Ende. In: Bahamas. Nr. 22 (Frühj. 1997). Theodor W. Adorno: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Einleitung. Darmstadt/Neuwied 1969, S. 70

[2] ebenda.

[3] Clemens Nachtmann: Wenn der Weltgeist dreimal klingelt. Zur Geschichtsmetaphysik der „Krisis“-Gruppe. In: Bahamas Nr. 21 (Herbst 1996), S. 24ff.

[4] Max Horkheimer zitiert bei Nachtmann, a.a.O.

[5] Vgl. Daniel Dockerill: Krisis am Ende. Wie ein Versuch, die Kritik der politischen Ökonomie zu aktualisieren, in ihrer Abspaltung verpuffte. In: Übergänge Nr. 1 (1994), S. 17.

[6] Nachtmann: Adornos ... , a.a.O.

[7] Uli Krug, Clemens Nachtmann: Widersinn und Banalität. In: Bahamas Nr. 19 (Frühj. 1996), S. 46ff.

[8] Clemens Nachtmann, Elfi Müller: Die wundersame Renaissance des Louis Althusser. In: Bahamas Nr. 18 (Winter 1995), S. 53ff.

[9] Anders als Wertkritiker wie etwa Robert Kurz annehmen (vgl. dazu Daniel Dockerill: Wertkritischer Exorzismus oder Wertformkritik. Zu Robert Kurz’ „Abstrakte Arbeit und Sozialismus“; in: Übergänge Nr. 2, bes. S. 69ff), spielt es hierbei keine Rolle, ob die Tätigkeit in ihrer unmittelbaren sozusagen flüssigen oder erst in vergegenständlichter Form, ob sie also als Dienst oder als fertiges Produkt in den Austausch gelangt. Entscheidend ist vielmehr, welchem ökonomischen Zweck die Tätigkeit von dem, der sie sich aneignet, zugeführt wird: daß sie wegen ihres je spezifischen Nutzens und nicht zur Produktion von Mehrwert (also als Arbeit überhaupt, unabhängig von ihrer bestimmten Nützlichkeit) angeeignet wird.

[10] Nachtmann: Adornos ... , a.a.O. Fn. 7. Nachtmann zitiert seinerseits Joachim Bruhn: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation. Freiburg 1994.

[11] Wenn der Weltgeist ... , a.a.O. Nachtmann folgert denn auch, daß „die Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie außer Kurs gesetzt“ seien. Als was aber hätten sie dann überhaupt noch irgend Geltung? Einerseits. Und andererseits: Worin noch bestünde das „Theoretische“ in seinem (Adornos) „revolutionstheoretischen Impetus“, also der bestimmte Zusammenhang zwischen jenem revolutionären Impetus und Theorie?

[12] Ebenda, Fußnote 10. Die „Rettung“ ist übrigens durchaus unnötig, denn unser kritischer Kritiker verkennt in seinem merkwürdig altbürgerlich verengten Blick, daß besagte „Momente“ ohne jede bewegungsemanzipatorische Hilfe sich längst selbst gerettet haben, indem sie aus Attributen des klassischen Bürgers zu solchen des modernen, proletarisierten Massenindividuums wurden, was ihnen selbstverständlich nichts von ihrer Fragwürdigkeit genommen hat – weder was ihre heutige, noch was ihre frühere Daseinsweise angeht.

[13] Nachtmann: Adornos ... ; a.a.O.

[14] Ders.: Die Situationisten (1958-1972). Auftakt zum westlichen Communismus. (Fortsetzung aus Übergänge Nummer drei). Wiedergewonnener Begriff vom modernen revolutionären Proletariat als Prozess der Negation. In diesem Heft; S. 97.

[15] ebenda.

[16] ebenda.

[17] S. dazu Rosa Luxemburg: Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie. In Dies.: Politische Schriften III. Frankfurt a.M.: EVA 1968. Sowie neben Lenins bekannter Schrift „Ein Schritt vorwärts ...“ die ebenso betitelte „Antwort N. Lenins an Rosa Luxemburg“ (beide in Lenin Werke, Bd. 7, Berlin 1976).

 

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Hässlicher Deutscher
Finanzmarktkrise