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 übergänge Zirkular : Nr. 1 : Editorial

Ingwer Schwensen

Statt eines Editorials

„Das, was schwer zu machen ist:

Undogmatische Theorie und phantasievolle Praxis“ hat Thomas Leithäuser Mitte der 70er Jahre eine Bilanz der damals bereits weitgehend „resozialisierten“ Emanzipationsbewegung überschrieben. Bis dahin hatte, wie seitdem noch oft, die revolutionäre Linke, dieser notwendig stets vorläufig wirkende Platzhalter der Aufhebung der gesellschaftlichen Verhältnisse, noch jeder ihrer vergangenen Gestalten zur Wiederkehr als Farce verholfen, auch verhelfen müssen. Es gelang nicht, Gegenstand und Begriff, die Praxis und das Denken gesellschaftlicher Emanzipation in der revolutionären Politik miteinander adäquat zu vermitteln. Es mißlang somit deren historisch notwendige Aktualisierung. Lösungen erfuhr dieses Problem nur um den Preis einer Aufspaltung und Neutralisierung der revolutionären Politik und, ganz praktisch, einzeln, zu zweit, in Arbeitsgruppen, einer Re-Privatisierung ihrer Akteure. In diesem Prozeß ist daher vielen die revolutionäre Theorie, wie anderen die reformistische Praxis, auch subjektiv vom asylum ignorantiae der Platzhalterschaft zu einer Art asylum in absentia, in – vermeintlicher – Abwesenheit der wirklichen Bewegung eben, welche den jetzigen Zustand aufhebt, geworden. Hier aber gelten bis heute die gleichen Regeln und werden die gleichen Kämpfe weiter ausgefochten. Es gibt in der irrationalen Totalität der Verdinglichung und Konkurrenz offenbar keinen Zufluchtsort, keine Freistatt der vernünftigen Produktion.

 

Wenn sich die erste Ausgabe dieses Zirkulars so nur in die lange Folge sich selbst ausrufender Avantgarden einzureihen scheint, in der negativ sich absetzenden Bestimmung eigener Identität bürgerliche Form mehr als wahrend, will es entgegen einer und sei es marxistisch elaborierten Exekution der schlechten Verhältnisse für einen selbst-reflexiven theoretischen Zugang werben und eine theoretische Praxis in Gang zu bringen versuchen, die sich die Rekonstruktion der Kritik der Politischen Ökonomie zum Bezugspunkt ihrer Mitarbeit an der Entfaltung einer revolutionären Theorie und Praxis der Gegenwart wählt. Es will somit im Bewußtsein nicht nur der eigenen Bedingtheit und Unzulänglichkeiten, sondern gerade der dringenden historischen Notwendigkeiten und praktischen Möglichkeiten dem bürgerlich exklusiven Konkurrenzgehabe kritischer Kritik ebenso wie den instrumentellen Verkürzungen politizistischer Theoriebildung die Arbeit des Begriffs in ihrer materialistschen Dialektik von Kritik und Selbstkritik, Praxis und Interpretation, Logik und Geschichte entgegensetzen. Dies bildet allemal das gemeinsame Ausgangsmotiv, zu der mit dieser Ausgabe erst angemeldeten Anstrengung zusammenzukommen. Seine Wirklichkeit wird sukzessive erweisen müssen, daß der dem Zirkular verbundene und sich zukünftig verbindende Diskussionszusammenhang in diese Schuhe hineinzuwachsen vermag. Seine bisherige Diskussionspraxis nährt da Zuversicht genauso wie Zweifel angesichts der noch längst nicht aufgehobenen „alten“ Probleme zu deren Bestimmung und Klärung die „Übergänge“ vermittels Inhalt und Form ihrer eigenen Arbeit beitragen wollen.

 

II.

Schon Anfang der 80er Jahre waren ja in der BRD-Linken sowohl die tiefe Krise der bisherigen marxistischen Theoriebildung und Politik allen Beteiligten recht evident geworden als auch die ersten Versuche einer theoretischen Reorientierung in Reaktion auf diese Krise in Gang gekommen. In der Hauptsache ist es der Initiative Sozialistisches Forum in Freiburg und der Initiative Marxistische Kritik aus Nürnberg, der heutigen Krisis, zu verdanken, wenn auch in unterschiedlicher Orientierung und Qualität, hier, außerhalb der Akademie wie in vermittelter Distanz zu den Neuen Sozialen Bewegungen, entscheidende Impulse gegeben und theoretisch Türen geöffnet zu haben. Ihre Arbeiten haben ein kritisches Licht auf die bisherige marxistische Theoriebildung geworfen und haben zum Beispiel vermittels ihrer Kritik des Arbeiterbewegungsmarxismus und des Wertfetischismus oder des linken Antisemitismus und des instrumentellen Charakters der diversen damals vorherrschenden Richtungen revolutionärer Theorie Standards gesetzt, denen sich die „Übergänge“ mit dem Versuch einer Rekonstruktion der Kritik der Politischen Ökonomie unter anderem zu stellen haben.

 

Die Notwendigkeit einer solchen Rekonstruktion in Form einer bis in die Oberflächenformen der bürgerlichen Gesellschaft zu konkretisierenden Kapitalkritik und so in Form einer Fortführung und weiteren Entfaltung der in Marx’ unvollendetem Hauptwerk angelegten analytischen und revolutionären Potentiale für eine Praxis der Befreiung und des Widerstands ergibt sich m.E. allerdings auch aus der Entwicklung, die gerade diese Ansätze genommen haben. Spätestens z.B. zu dem Zeitpunkt, wo die Krisis konkret wird (lies auch: wo die „Krisis“ „Konkret“ wird), erweisen sich die schon seit Jahren rumorenden Kritiken wie etwa an der Verengung der Kapitalkritik auf Wertkritik, an der einfachen Eskamotierung des Arbeitsbegriffs oder an der Aufhebung historischer Dialektik in eine schlechtabstrakte Kategorienlogik als erste Benennungen der entscheidenden Fehlerquellen dieses Ansatzes, die mittlerweile in seinen unvermittelten Übertragungen abstraktester Kategorien in realempirische Wesenheiten und dem kleinbürgerlichen Gestus, längst und allemal besser diskutierte Argumente als eigene Erfindung auszugeben, kenntlich werden. Zugleich manifestiert sich in beiden Ansätzen bisweilen eine typische Kritikfigur, die den Gegenstand ihrer Kritik im Zuge seiner Behandlung schlicht erledigt, sodaß schließlich nicht mehr kritisiert wird, wie Kommunistinnen und Kommunisten z.B. Emanzipation verstehen und für sie eintreten, sondern daß sie es tun. Ebenso verhält es sich bei beiden mit weiteren nur ungenügend gelösten Problemen: dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, der Klassentheorie, dem gesellschaftlichen Naturverhältnis, Fragen der Subjektkonstitution, der Bestimmung von Form und Inhalt der gesellschaftlichen Praxis und so der gegenwärtigen historischen Bedeutung und widersprüchlichen praktischen Umsetzungsmöglichkeiten kommunistischer Emanzipation als der Produktion der Verkehrsform selber.

 

Entlang dieser Problemstellungen hat man es nicht nur bei ihnen mit systematischen Fehlern zu tun, deren Ursachen in der einseitigen, undialektischen Anwendung, methodologisch-erkenntnistheoretischen Verkennung oder allzu leichtfüßigen Reinterpretation zentraler Kategorien der Kritik der Politischen Ökonomie zu suchen sind. Diese ist dagegen in Richtung einer kritischen Theorie des bürgerlichen Individuums fortzuführen und, das ist für die allseits beschworene Fortführung zentral, praktisch zu entfalten und nicht mittels einiger theoretischer Winkelzüge faktisch zu erledigen. Denn damit begibt sich revolutionäre Theoriebildung ihrer notwendigen dialektisch-materialistischen Grundlagen und wird restlos zum schillernden Diskurs unter bürgerlichen Diskursen.

 

III.

Über diese Punkte waren sich die TeilnehmerInnen der ersten regulären Treffen dieses sich noch gründenden Zirkulars einig, wenn auch in Form einer Einigkeit auf schmaler Grundlage. Es wurden sich, wie es für die Gewinnung einer eigenen Identität immer förderlich ist, zwar auf erste Kritikpunkte an den sich tummelnden Platzhirschen verständigt, die guten Absichten gegenseitig kundgetan und wechselseitigen Diskussionsfähigkeiten ausgetestet. Aber erst mit dieser ersten Ausgabe und den darauf folgenden Reaktionen und Treffen wird die Möglichkeit bestehen, in erweiterter Vernetzung zu präziser bezogenen inhaltlichen Diskussionen zusammenzukommen. Dort wird sich dann so oder so erweisen, welche weitere Entwicklung oder auch was für ein rasches Ende diesem Vernetzungsversuch für eine revolutionäre Theoriebildung der Gegenwart beschieden sein wird.

 

Meines Erachtens, der ich dieses erste Statt-Editorial aus einer Stellung als Teilnehmer wie als interessierter Beobachter von Seiten der Hamburger Studienbibliothek heraus schreibe, wird der Erfolg dieses Zirkulars wesentlich von seinen Fähigkeiten zur selbst-reflexiven Implementation seines Rekonstruktionsversuchs abhängen. Welchen Inhalt hat denn die Rede von „Rekonstruktion“ über die oben getroffenen Bestimmungen hinaus? Was sollte ihre Ausgangspunkte bilden? Wohin soll mit welchem Gepäck vermittels Rekonstruktion und vor allem wie „übergegangen“ werden? Die revolutionäre Linke, ihre Praxis und ihre Theoriebildungsprozesse, wie eingangs geschehen, wesentlich als Platzhalter zu bezeichnen, bezeichnen zu müssen, würde ja erst dann obsolet, wenn es gelänge, sich in eine vermittelte Übereinstimmung mit der „wirklichen Bewegung“ zum Kommunismus zu bringen, einen tätigen Teil also dieser Bewegung zu bilden. In diesem Sinne bedeutet Rekonstruktion, die dialektische Bewegung einer produktiv-reproduzierenden Praxis der Antizipation und Kritik in der Geschichte, wie sie von Marx im Gesamtzusammenhang seines Werkes als Motor und Möglichkeit der tätigen Selbstaufhebung des Kapitalismus analytisch hervorgetrieben wird, bis in unsere Gegenwart fortzuführen und hier praktisch, entlang der Produktivkraftentwicklung der Individuen auf Weltmarktniveau, dieser Schranke des Kapitals in sich selbst, zu verankern. Sie beinhaltet somit wesentlich in Form einer tätigen Entfaltung der produktiven Vermögen der Individuen:

 

– eine in der Arbeit des Begriffs sich entfaltende gesamtgesellschaftliche und historisch-genetische Perspektivnahme

– eine darin vorzunehmende materialistische Selbstverortung und -kritik, die z.B. die abstrakte Allgemeinheit ihrer theoretischen und praktischen Bezugnahme zu überwinden und überzugehen vermag zu einer kritischen Anerkennung der historischen Dialektik von Allgemeinem und Besonderem und deren soziokulturell fundierter wie codierter Vervielfachung in der Spezifik des Leidens und der Not wie des Bedürfnisreichtums und der Glücksansprüche der Individuen/seiner selbst in ihrer derzeitigen kapitalistischen Schäbigkeit als prozessierende Widersprüche, als Bedingungen somit der kapitalistischen Krise

– ein demgemäßes Ausbuchstabieren der Krise, um in ihrer konkreten Aneignung nach vorn gehende Optionen in der barbarischen Selbstaufhebung des Kapitals zu erkämpfen / zu gewinnen und voranzutreiben

– bewußte Vergesellschaftungspraxis also in dieser Selbstaufhebung und gegen die barbarischen Formen, nicht gegen die Selbstaufhebung des Kapitals.

 

Die in der Totalität des durch das Kapital gesetzten gesellschaftlichen Verhältnisses allseits gegebene Identität von Identität und Nichtidentität zum Zwecke ihrer Aufhebung quasi wie eine Welle auszureiten, erweist sich dafür als eine unhintergehbare historische Notwendigkeit. Denn diese gleiche widersprüchliche Konstitution kapitalistischer Totalität wie der bürgerlichen Individuen in ihr, die in dem totalen System der Ware in ihrem Doppelcharakter, das in der kapitalistischen Mehrwertproduktion dann zum Prozeß kommt, wurzelt, ist für eine marxistische Gesellschaftstheorie der zentrale Angelpunkt. Sie transportiert im Zuge der historischen Vergesellschaftung des Kapitalverhältnisses die dialektisch zu vermittelnde doppelte Bestimmung des einen gesellschaftlichen Subjekts: einerseits „kritisch als ,automatisches Subjekt‘ (Marx) unter dem Aspekt ihrer [d. bürg. Gesellschaft] Aufhebbarkeit“[1], andererseits als die historisch tätigen Subjekte, wie sie hier als vergesellschaftete und sich vergesellschaftende bestimmt werden. Entlang dieses doppelten Begriffs von ,Subjekt‘ im Kapitalismus, der – das Kapital wirklich als gesellschaftliches Verhältnis denkend – allein in der produktiv tätigen Weltaneignung der Individuen, ihrer Subjektivität und Praxis objektiv als gesellschaftlicher, so menschlicher realisiert wird, ist die folgende Bestimmung von Dialektik[2] zu lesen, weil sie in kondensierter Form die Frage nach der Bedeutung der historischen Angemessenheit von Gegenstand und Begriff, vom Vollzug selbstreflexiver Theorie und Praxis einer Rekonstruktion der KpÖk als kritischer Theorie des bürgerlichen Individuums und ihre Antwort enthält: „Die Marxsche Dialektik als an die Kategorie der Ware gebundene Form ist deshalb nicht nur Ausdruck der kapitalistischen Verhältnisse, sondern im Gegensatz zur Hegelschen Denkweise drückt sie diese Verhältnisse selbstbewußt aus, in Kenntnis der Zusammenhänge, deren Teil sie ist: als Reflexion der gesellschaftlichen Totalität vom Standpunkt des zu sich kommenden Subjekts; auf einer Stufe, auf der die Welt durch und für das Subjekt bewußt wird.“

 

Inwiefern eine solche revolutionäre Dialektik selbstbewußter Subjektivität als Möglichkeit überhaupt Wirklichkeit besitzt, erweist sich daher in der Praxis der theoretischen Arbeit zentral am Grad von deren Selbst-Reflexivität. Selbstreflexiv eben in dem doppelten Sinne einmal der kritischen Reflexion auf sich selbst als Bestandteil – epochemachender Produzent und Reproduzent – des Reflektierten wie zum anderen auf die historische Reflexivität der auf sich selbst zurückschlagenden kapitalistischen Entwicklung selber.

 

Auch in der theoretischen Arbeit gilt somit die Dialektik von Theorie und Praxis. Wer sich nicht mit hineinnimmt, hineinvermittelt, konkret, in die allgemeinen Bestimmungen, vermag dieses Spannungsverhältnis des prozessierenden Widerspruchs (nicht nur der Ambivalenz, wie die neomoderne Gesellschaftstheorie dieses Verhältnis sogleich neutralisiert) in der Identität von Identität und Nichtidentität nicht zu übernehmen oder zu begreifen, geschweige denn revolutionär zu wenden. Er oder sie werden zwangsläufig antigesellschaftliche Bürger rein auf der Bürgerseite bleiben, egal als wie total vergesellschaftet sie sich deklamieren oder wie oft sie das Kompendium der KpÖk umgewälzt, feinziseliert und rerekonstruiert haben. Die Betonung des selbst-reflexiven Moments heißt also, sich in seiner Bedingtheit ebenso wie mit seinen produktiven Vermögen auch in der theoretischen Arbeit und Diskussion in eine vermittelte Präsenz zu bringen und mit emanzipatorischen Lösungsversuchen für die gesellschaftlichen Probleme, für die eingestanden werden kann und wird. Selbstreflexiv heißt somit auch, die Kritik kostet einen selber was und tobt sich nicht billig an eigens dafür zugerichteten Schießbudenfiguren aus. Sonst geht es nur um bürgerliche Hegemonie, um Vorteile in der Reproduktion und wechselseitigen Durchsetzung kapitalistischer Klassenkonkurrenz aneinander im fröhlichschaurigen Miteinander; diesmal, wiedermal unter der Fahne einer Rekonstruktion der KpÖk.

 

IV.

Materialistische Kritik also „has to live up to its own premises“, hat ihre Vorgaben immer wieder zu ermessen und zur Praxis zu treiben. Sie muß Rekonstruktion darstellen im Sinne konkreter Aneignung – als Modus der Reflexivität auf der individuellen Seite des gegenständlichen Produktionsprozesses – ihrer kapitalistischen Geschichte und Gesellschaftlichkeit. Das beinhaltet, den historischen Vergesellschaftungsschub, in dem die bisherigen Inhalte und Formen linker Identität als obsolete schließlich weggebrochen sind, für sich selber und in Inhalt und Form der theoretischen Praxis bewußt zu vollziehen. Dieser tätige Nachvollzug ist ohne die kritischen Kategorien der Marxschen Theorie als ein adäquat reflektierter und emanzipatorisch anzueignender nicht zu haben. Denn ebensowenig wie die kommunistische Revolution nicht ohne die entwickelten und ihre Entwicklung in eigene Regie zu nehmen versuchenden Individuen zu denken ist, kann sie auch nicht von den Individuen her gedacht werden. Es sind entlang der Marxschen Theorie die Individuen vielmehr, wie bereits am Subjektbegriff kurz ausgeführt, als durch geformte Gesellschaftlichkeit bestimmte Handlungssubjekte zu denken, die bisher noch in der Art und Weise ihres objektiven Hinausgetriebenseins über die Grenzen des Kapitalverhältnisses dieses Verhältnis auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren. Das Kapital und also die historische Praxis der modernen Individuen als gesellschaftliches Verhältnis zu denken, muß auch diesen Widerspruch aufnehmen und aushalten können: die modernen Handlungssubjekte/sich in seiner Praxis als immanente Schranke der kapitalistischen Produktion wie zugleich als „Mittel, die ihr diese Schranken [im Zuge ihrer Überwindung] aufs neue und auf gewaltigerm Maßstab entgegenstellen“[3], zu begreifen. So ist der Klassenkampf tatsächlich Motor der sich in hausgemachten Krisen vollziehenden kapitalistischen Geschichte als Ringen des Proletariats um seine Selbstaufhebung (wofür wir bekanntlich alle mit ins Glück reißen müssen).

 

Die kapitalistische Krise und die sie einleitenden wie begleitenden Vergesellschaftungschübe stellen auf Seiten der Individuen und so wiederum für das gesellschaftliche Verhältnis Kapital wesentlich eine Krise der Reproduktion kapitalistischer Vergesellschaftungsformen dar. Einerseits sind die Menschen dem kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozeß natürlich vollkommen egal, er ist ohne Bewußtsein oder Moral. Andererseits werden den Einzelnen entlang der Intensivierung der Produktions- und Verwertungsprozesse in Arbeit und Alltag immer mehr Verfügbarkeit, allseitige Flexibilität und Produktivität abverlangt. Damit intensivieren sich die Anforderungen an die Entwicklung und Entfaltung der produktiven und selbst-reflexiven Persönlichkeit, ihrer sinnlichen Vermögen, ihrer sozialen und kulturellen Fähigkeiten und zugleich an die Vermittlungsleistungen, die jede und jeder zu erbringen hat, will er oder sie nicht aus dem im Kapitalismus untrennbar miteinander gekoppelten Arbeits- und Verwertungszusammenhang herausfallen, der eben längst auch privat und subjektiv den einzigen Formzusammenhang der Individuen bildet. Jede und jeder wird also bei Strafe des eigenen Untergangs zum einen als gesellschaftliches Individuum je einzeln zum allseits bestimmenden, sinnlich produktiven, sich selbst und seine Umwelt reflektierenden und seine sozialen und kulturellen Fähigkeiten und Bedürfnisse ent- und fortentwickelnden, allein verantwortlichen und insofern auch freien Sachwalter, aber eben auch produktiven Selbstverwerter des eigenen Lebens, seiner oder ihrer eigenen Biographie. Sie werden zugleich in der reellen Subsumtion zum ohnmächtigen Anhängsel eines auch historisch total werdenden Produktionsverhältnisses, in dem sie sich radikal anzupassen und ihr Überleben zu sichern haben und die persönliche Geschichte und Besonderheit ihrer Gesellschaftlichkeit, die dem Ganzen egal ist, irgendwie unterzubringen und als in dem geselschaftlichen Verhältnis Kapital produktivierbares Vermögen verwertbar gestalten und erhalten müssen.

 

Diesen Widerspruch, somit im Zuge der Produktivkraftentwicklung im umfassenden Sinn in Potenz über das Kapital hinaus und zugleich natürlich nicht hinaus zu sein, diese Gleichzeitigkeit von Armut und Reichtum der modernen Individuen mit allen Verästelungen, unterschiedlichsten Gesichtern, schöpferischen und zerstörerischen Wirkungen und zunehmend historisch neuen Implikationen leben wir alle. Insofern schafft der Kapitalismus selber die entwickelten Menschen, die das Potential haben, mehr nicht, ihn auch aufheben und sich selbst bewußt vergesellschaften und ihr Zusammenleben selbstbestimmt gemeinsam gestalten zu können. Diesen Prozeß tätiger Emanzipation in Richtung auf die Produktion der Verkehrsform selber, den die Vergesellschaftungsschübe der „modernisierten Moderne“ in der Produktivkraftentwicklung der Individuen als Möglichkeit wie als widersprüchliche Praxis aus sich heraussetzen, gilt es also zu „rekonstruieren“, wenn von Rekonstruktion nicht nur die Rede sein soll.

 

Der Perspektiven- und Funktionswechsel, den Selbstreflexivität in der revolutionären Theorie und Praxis erfordert, gilt somit genauso für die Arbeit einer Rekonstruktion der KpÖk selber. Als könnten sie es nicht besser wissen, scheitern die Rekonstruktionsversuche „in Form einer bis in die Oberflächenformen der bürgerlichen Gesellschaft zu konkretisierenden Kapitalkritik“ immer wieder an der einfachen Übertragung abstraktester Kategorien in die Analyse alltäglicher Lebensvollzüge. Wenn es drauf ankommt, vergessen sie offenbar, was Marx selber z.B. in der Einleitung zu den „Grundrissen“ zu seinem Abstraktionsverfahren und dann praktisch im Gang der Darstellung im „Kapital“ selber und im Gesamtzusammenhang seines Werkes als Aufhebung der Philosophie in Gesellschaftstheorie ausführt. Ausgangspunkt der KpÖk, zu der werkbiographisch im engeren Sinne mindestens die „Grundrisse“ hinzuzählen sind, bildet erkenntnistheoretisch wie politisch-intentional die unbegriffene Mannigfaltigkeit kapitalistischer Wirklichkeit (apropos werkbiographisch: Marx weicht selber in ihrer Gewinnung von seinen späteren Vorgaben ab, aber der alte Mann ist ja nur ein Beispiel, keine Ikone). Ihren „Endpunkt“ hat sie in Form von deren Konkretion „als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen“[4], einer Totalität somit, die das Ganze nicht ist, sondern enthält und revolutionär gewendet enthält in Form ihrer sinnlich-tätigen Aufhebung im doppelten Sinne. Und hier, im Verständnis der Darstellung und dieses „Endpunktes“ liegt das Problem. Wird diese – Hegel überwindende hegelsche – theoretische Figur nicht selber dialektisch-materialistisch als Moment der gesellschaftlichen Praxis, des gesellschaftlichen Seins begriffen und so die obige Bestimmung von Dialektik auf ein einfaches Wissen wie auf ein Ding oder einen Besitzgegenstand (auf kulturelles Kapital würde Pierre Bourdieu sagen) verkürzt, wird das Phänomen der Verdinglichung in der theoretischen Praxis immer wieder nur systematisch verdoppelt.

 

Verdinglichung reflektiert ja die Tatsache, daß sich im Kapitalismus die erfahrbare und erfahrene Wirklichkeit über abstrakte Verhältnisse herstellt. Diese gehen die Individuen vermittels ihrer interaktiven Praxis – vergesellschaftetes wie vergesellschaftendes Handeln – in Produktion, Zirkulation und Reproduktion zwar selber ein, sie nehmen aber, obwohl Beziehungen zwischen Personen, unter der Warenform „den Charakter einer Dinghaftigkeit und auf diese Weise eine ,gespenstige Gegenständlichkeit‘ [an], die in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt“[5] Diese Verhältnisse können in der kritischen Arbeit des Begriffs Konkretion als Gedankenkonkretum erlangen, darauf zielen die Rekonstruktionsversuche normalerweise ab. Eine praktische Synthesis von Einsicht und Handeln ist in ihnen solange unmöglich, als die Verhältnisse nicht selber zur Wirklichkeit des Gedankens drängen. Die theoretische Kritik dieses Umstands ändert somit per sé nichts daran, daß sich der gesellschaftliche Zusammenhang hinter dem Rücken der Individuen vermittels ihrer eigenen Praxis als ein verdinglichter, oder was im Kapitalismus das Gleiche ist, als ein abstrakter Formzusammenhang – eben der Ware als Universalkategorie des gesellschaftlichen Seins und ihrer Form als universeller Form der historisch praktischen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus – darstellt.

 

Nun kommen die Abstraktionen in der KpÖk zwar, wie auch anders?, als formale Abstraktionen daher (tatsächlich bedient Marx sich dabei mindestens zweierlei Abstraktionsverfahren, das ist hier aber egal), sie stellen jedoch einen rekonstruktiven, analytisch-kritischen Nachvollzug der Realabstraktionen in der gesellschaftlichen Praxis der Individuen dar, die das eben nicht wissen, aber tun. Zugleich faßt Marx diese Praxis in den Feuerbachthesen selber als eine revolutionäre: „Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.“[6] Die theoretischen Arbeiten und Diskussionen sind Bestandteil dieser Praxis und sind somit selber und in Gestalt der Marxschen Theorie ein mächtiger Teil der Wirklichkeit, die zum Gedanken drängt. Sie sind im günstigen Fall die revolutionäre Seite z.B. der Entwicklung der Produktivkraft Wissenschaft, deren blockierte Aneignung meist einseitig als Verwissenschaftlichung des Alltags im Sinne von Komplizierung beklagt wird.

 

Stellt die theoretische Arbeit einen Teil der Wirklichkeit, die zum Gedanken drängt dar, muß sie als solche auf sich reflektieren und sich entsprechend organisieren. Sie versteht Rekonstruktion der KpÖk bis in die Oberflächenformen als Frage nach der wirklichen Bewegung und versteht diese Frage als die nach der selbstreflexiven Entwicklung und Aneignung der eigenen Produktivkräfte als einem gesellschaftlichen Prozeß, der sich derzeit noch wesentlich unter der Form des Kapitals vollzieht. Also stellt Rekonstruktion die Frage nach den gesellschaftlichen Vermögen der Individuen dar und danach wie diese Vermögen beschaffen sind und angeeignet werden können. Und zwar angeeignet in einer Art und Weise, die sie aus der Ägide kapitalistisch geformter Gesellschaftlichkeit heraustreten und Inhalte und Formen kommunistischer Gesellschaftlichkeit, wie sie auf dem Boden des Kapitalismus erwächst, antizipieren läßt. In der als schöpferisch zu begreifenden Aneignungsfunktion antizipierender (Alltags-)Praxis, in Produktion und Reproduktion bewußter Vergesellschaftung also als sinnlich tätiger Freisetzung der Individuen, die sich immer in Kämpfen vollzieht, entstehen die frei sich assoziierenden Fähigkeiten und Bedürfnisse, entstehen historisch-praktisch die Subjekte, die einander zu sich selber kommen lassen.

 

Rekonstruktion bis in die Oberflächenformen hinein bedeutet den qualitativen Wechsel von der Philosophie zur Gesellschaftstheorie, der in der Konkretion der unvollendeten KpÖk an ihrem Ausgangspunkt bereits theoretisch antizipiert wird – Marx denkt den Kapitalismus immer von seiner revolutionären Aufhebung her –, ebenfalls zu vollziehen, indem man die rekonstruktive Fortsetzung des Marxschen Projekts Gesellschaftstheorie praktisch, in Reflexion auf sich selbst, quasi als eine nicht-fiktionale Konstruktion und Fortentwicklung eines Instruments der Befähigung der Individuen/seiner selbst betreibt. Das führt weit aus dem Muff der, notwendig scheiternden, mehr oder weniger ableitenden Kategorienreiterei heraus, nicht aber aus Inhalt und Form der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie.

 

Mit diesem Selbstverständnis, seine eigene Historizität und Gesellschaftlichkeit und sich selbst darin als Momente und, vermittels einer Praxis von Antizipation und Kritik, als Akteure zu sich kommender Wirklichkeit gedacht, wie ich es hier in einigen Thesen umrissen habe, vermöchten wir m. E. in der Anstrengung revolutionärer Theoriebildung sozusagen zu uns zu kommen und in der kommunistischen Bewegung überzugehen vom Platzhalter zum selbstbewußten Akteur der Aufhebung unserer kapitalistischen Identitätsform wie der sie hervorbringenden gesellschaftlichen Verhältnisse: dem, was schwer zu machen ist.

 

V.

Die nachfolgenden Beiträge bieten erste Einstiege für einen solchen Diskussionsprozeß; auch insofern als sie mancher der hochgeschraubten Zielvorgaben dieses Editorials sicherlich nicht gerecht werden oder auch bewußt ermangeln. Dieser Umstand bildet m. E. einen wesentlichen Bestandteil des Konzeptes der „Übergänge“: sein Wollen notwendig prozessual zu verstehen, Antizipation und Kritik als Spannungsbogen wirklich aufzumachen, nicht die Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit sich als Beschneidung der Wünsche oder als ein, quasi vorprogrammiertes, Versagen gegenüber einer aus den Verhältnissen herausfabrizierten falschen Eindeutigkeit und einem abstrakten Leistungsmaß nochmal reinzuwürgen. Es würde sonst, wie gesagt, in der falsch verstandenen theoretischen Praxis lediglich der „Typus des verdinglichten Bewußtseins“, wie Adorno ihn nennt, reproduziert werden. „Erst haben die Menschen, die so geartet sind, sich selbst gewissermaßen den Dingen gleichgemacht. Dann machen sie, wenn es ihnen möglich ist, die anderen den Dingen gleich.“[7] Gegen eine solche Praxis werben die „Übergänge“ für ihr Konzept eben einer inhaltlich bestimmten möglichst anspruchsvollen selbst-reflexiven Diskussion. Und davon soll man irgendwann nicht mehr nur groß reden, sondern damit muß man irgendwann mal anfangen.

 

Für die „Übergänge“ in gedruckter Form machen den Anfang Artikel, die, wie schon einigen der Titel zu entnehmen ist, vornehmlich um die kritische Auseinandersetzung mit und so auch Absetzung von der Nürnberger Krisis-Gruppe kreisen. Die Texte sprechen für sich und müssen hier nicht noch erst vorgestellt werden, zumal es ja in dieser Startnummer mit ihrer Diskussion gleich losgeht. Nur soviel: Der Aufsatz „Krisis am Ende“ von Daniel Dockerill ist die überarbeitete Fassung eines Textes, den die Teilnehmer der letzten Jahresversammlung des Krisis-Trägerkreises bereits in den Händen halten. Er wird ergänzt durch Daniels „Replik“ auf die ebenfalls hier zu findenden „Sieben Anmerkungen“ Klaus Braunwarths zu seinem Text. Auch der zweite längere Aufsatz dieses Heftes, „Abspaltungstheorem und Arbeit“ von Robert Schlosser, hat eine Vorgeschichte. Er hat schon eine längere Zeit in der Schublade gelegen, wie sich auch der Datierung des Briefes entnehmen läßt, in dem wiederum Klaus Braunwarth, bezugnehmend auf Roberts Text, Kritisches anmerkt zum Zusammenhang von Gechlechterbeziehungen und kapitalistischer Vergesellschaftung. Eine sehr kurze Kurzfassung von Roberts Polemik wider den vorletzten Geniestreich aus Nürnberg war bereits in der Spezial (Nr. 89) zu lesen. „Ontologie und Geschichte“ von Franz Lindemann, sowie die „Thesen zur Arbeit“ von T&T wurden ursprünglich verfaßt als Diskussionsbeiträge für ein einwöchiges Treffen zum Thema Arbeit, Wert und Wertform, das anfang des Jahres stattgefunden hat. Ein brieflicher Kommentar von Matthias Grewe zu diesen Thesen beschließt dann den Kanon dieses ersten Testballons. <>



[1]  Reinicke / Postone: Dialektik des Proletariats, in: Jahrbuch Arbeiterbewegung 4, 1974; S. 266

[2]  ebd.; S. 267

[3]  MEW 25, S. 260

[4]  Marx: Grundrisse; S. 21

[5]  G. Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein; S. 170 f.

[6]  MEW 3; S. 6

[7]  Erziehung nach Auschwitz. GS 10, 2; 684

 

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